
Von Thomas A. Friedrich (Foto: Hanna Penzer)
Wie viel kostet ein Tag Streik die Volkswirtschaft? Macht er die Belgierinnen und Belgier reicher und glücklicher?
Was ist los in Belgien? Die öffentliche Neuverschuldung entsprach zuletzt 4,5 Prozent, und der Schuldenstand lag deutlich über 100 Prozent der Wirtschaftsleistung – den gesamten Einnahmen aus Arbeit und Dienstleistungen der produktiven Bevölkerung.
Damit bricht Belgien seit vielen Jahren die EU-Rechtsvorgaben, wonach die Mitgliedstaaten gehalten sind, ihr Budget-Defizit auf drei Prozent zu begrenzen und die Schuldenquote unter 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu halten.
Die von dem flämischen Nationalisten Bart De Wever geführte Arizona-Koalitionsregierung ist im vergangenen Februar mit dem Anspruch angetreten, Belgien als Gründungsmitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) aus dem Sumpf hoher Staatsverschuldung zu befreien.
Das von der Arizona-Koalition vorgelegte Austeritäts-Programm bringt die Gewerkschaften des Landes auf die Barrikaden (siehe Belgieninfo). Ihre Protest- und Streikaktionen, die am vergangenen Dienstag weite Teile der Verkehrsinfrastruktur – mit Ausnahme der Eisenbahnstrecken – landesweit nahezu lahmlegt haben, verstärken den Druck auf die belgische Föderalregierung enorm.
Belgiens Regierung im Spagat zwischen Sparzwang und höheren Verteidigungsausgaben
Erst zu Wochenbeginn scheiterte unter den zerstrittenen Koalitionären ein Einigungsversuch auf einen Sparhaushalt. Die für Dienstag angesetzte Regierungserklärung von Bart De Wever im Parlament wurde verschoben. Der Regierungschef sieht sich einer Herkulesaufgabe gegenüber.
Ungeachtet der Suche nach Einsparungen von etwa zehn Milliarden Euro hat die belgische Regierung, traditionell im Nato-Kreis ein Nachzügler bei den Verteidigungsausgaben, zugesagt, diese in einem ersten Schritt auf zwei Prozent der Wirtschaftsleistung anzuheben. Vom in Den Haag auf dem jüngsten Nato-Gipfeltreffen vereinbarten sogenannten Fünf-Prozent-Ziel scheint Belgien dagegen noch Lichtjahre entfernt zu sein. Aus haushaltspolitischer Sicht mutet dennoch die jetzt kurzfristig angestrebte Erhöhung der Verteidigungsausgaben um gut vier Milliarden Euro wie die Quadratur des Kreises an.
Vieles spricht daher dafür, dass die Bemühungen um die Haushaltssanierung letztlich über Gedeih und Verderb der komplex zusammengesetzten Arizona-Koalition entscheiden werden. Ihr gehören nicht nur niederländisch- und französischsprachige, sondern auch deutlich rechts – wie De Wevers Neu-Flämische Allianz (N-VA) und die französischsprachigen Liberalen (MR) – aber auch links der Mitte angesiedelten Parteien wie die flämischen Sozialisten (Vooruit) an. Dazwischen positionieren sich in der Koalition die flämischen Christdemokraten (CD&V) und die zentristische Partei „Les Engagés“.
Was will die Föderalregierung der Bevölkerung zumuten?
Ganz oben auf der Liste sozialer Einschnitte stehen die Kürzung der Frühverrentung und das Einfrieren der Lohnindexierung. Auch die Erhöhung des Renteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahre – in Deutschland bereits beschlossene Sache – verläuft in Belgien äußerst kontrovers. Dagegen haben die Gewerkschaften heftigen Widerstand angekündigt. Der Zorn der Arbeitnehmervertreter trug am Dienstag – weitgehend friedlich – mit wohl mehr als 100.000 Teilnehmern den landesweiten Protest in die Brüsseler Straßen. Die Auswirkungen schlagen sich gleichermaßen kostspielig für die belgische Wirtschaft und Gesellschaft nieder.
Airport Shuttle-Linie 12 beförderte Flugreisende in Sackgasse Zaventem
Belgiens größter Flughafen – jenseits der östlichen Brüsseler Grenzen im flämischen Zaventem gelegen – sagte alle Abflüge ab, da Sicherheitskräfte ihre Arbeit niederlegten. Der Flughafen Charleroi, ein wichtiges europäisches Drehkreuz der Billigfluggesellschaft Ryanair, sagte aufgrund von Personalmangel sämtliche Flüge ab.
Gewerkschaftsvertreter, die bereits weitere Proteste angekündigt haben, zeigen sich wütend und von der Regierung enttäuscht: „Diese Regierung hat mehr nachhaltige Arbeitsplätze und eine höhere Kaufkraft versprochen. Heiße Luft! Und wieder einmal zahlen alle, außer den Reichen“, erklärte ein Sprecher des christlichen Gewerkschaftsbundes (ACV/CSC). Auch die sozialistischen Gewerkschaft (ABVV/FGTB) und die kleinere liberale Gewerkschaft (ACLVB/CGSLB) hatten zu den Protesten gegen bereits beschlossene und weitere in Aussicht gestellte Sparmaßnahmen der Mitte-Rechts-Regierung zur Senkung des Haushaltsdefizits aufgerufen.
Stillstand zu Lande, Wasser und in der Luft
Nicht an Streiks beteiligten sich die Bediensteten der Eisenbahngesellschaft NMBS/SNCB. Es wurden sogar zusätzliche Züge mit dem Ziel eingesetzt, möglichst viele Demonstranten auf der Schiene nach Brüssel zu befördern. Dagegen blieben, vor allem in Brüssel und in der Wallonie, dagegen weniger in Flandern, die meisten Busse, Straßenbahnen und U-Bahnen in den Depots. Dies galt aber zum Beispiel nicht für die Airport Shuttle Buslinie 12. Sie brachte etliche gestrandete Flugpassagiere zurück vom Flughafen Zaventem in Hotels.
Was kostet ein Streiktag die belgische Gesellschaft?
Der Schiffsverkehr in Europas zweitgrößtem Hafen Antwerpen wurde bis Mittwoch wegen Personalmangels eingestellt. Mehr als 100 Schiffe hätten Tag und Nacht auf die Erlaubnis gewartet, in einem der drei großen belgischen Seehäfen anzulegen, teilte der belgische See- und Küstendienst MDK mit. Die volkswirtschaftlichen Kosten des Stillstands werden pro Tag auf bis zu dreistellige Millionensummen Euro geschätzt.
Überfordert die Alterspyramide der belgischen Bevölkerung die Sozialsysteme?
Die meisten Plakate im Protestzug vom Dienstag waren einer Zahl gewidmet: 67 mit einem roten Strich durchkreuzt. Die Message vieler Demonstranten lautete unmissverständlich: „65 ist genug. 67 ist zu spät. Wir sollen mehr arbeiten, länger arbeiten. Das ist nicht fair.“
Die Anhebung des Rentenalters ist ein entscheidender Stein des Anstoßes der Protestierenden. Liegt nun die Zündschnur auch gegen Belgiens Regierung schon bereit, um sie zur Explosion zu bringen? Ein Blick in das südliche Nachbarland Frankreich lehrt, wie die Erhöhung des Rentenalters um zwei Jahre eine Regierung zu sprengen drohte. Erst die Zusage des neuen Premierministers Sébastien Lecornu, das Renteneintrittsalter zunächst bei 62 Jahren und neun Monaten zu belassen und den schon getroffenen Beschluss zu einer Anhebung auf 64 Jahre vorerst in der Schwebe zu halten, überzeugte die meisten sozialistischen Abgeordneten davon, die Regierung jetzt nicht durch ihre Zustimmung zu einem Misstrauensantrag zu Fall zu bringen.
Die Anhebung des Rentenalters wurde in Belgien vor zehn Jahren beschlossen, lange bevor die Regierung De Wever ihr Amt antrat. Auch nach einem Jahrzehnt bleibt sie äußerst unpopulär. Die Arizona-Regierung will sie nun gesetzlich festschreiben und die vorzeitige Inanspruchnahme einer Früh-Pensionierung verteuern.
Schneiden sich Streikende ins eigene Fleisch?
Die belgische Statistikbehörde Statbel hält den belgischen Bürgerinnen und Bürgern den Spiegel vor und listet unbequeme Wahrheiten auf: Die jüngsten Bevölkerungsprognosen des föderalen Planbüros und des Statistikamts Statbel zeigen demnach, dass das Problem der alternden Bevölkerung sich in den kommenden Jahrzehnten weiter verschärfen wird.
Derzeit kommen in Belgien auf 100 Personen im erwerbsfähigen Alter (18 bis 66 Jahre) 28 Personen im Alter von 67 Jahren und älter. In zehn Jahren wird diese Zahl auf 37 gestiegen sein. Im Jahr 2070 werden auf 100 Personen im erwerbsfähigen Alter 47 Personen im Alter von 67 Jahren und älter kommen. Mit anderen Worten: auf eine Person, die 67 Jahre und älter ist, kommen derzeit zwischen drei und vier Personen im erwerbsfähigen Alter. Bis 2070 wird dieser Anteil den Prognosen der Statistiker zufolge auf einen Wert von nur noch etwas mehr als zwei weiter sinken.
In Belgien tickt eine sozialpolitische Zeitbombe
Auch in Belgien tickt eine demographische und sozialpolitische Zeitbombe, die nicht zu leugnen ist. Der belgische Föderalstaat kommt um tiefgreifende Reformen nicht herum. Wer ausschließlich auf Besitzstandswahrung aus ist und vor den wissenschaftlichen Prognosen die Augen verschließt, dürfte grundlegend das Sozialstaatssystem europäischer Prägung gefährden – gerade auch in Belgien.
Lebenserwartung steigt – Fertilitätsrate sinkt
Einen weiterer in der politisch aufgeheizten Diskussion nicht zu leugnenden Faktor in Belgien stellt die gestiegene Lebenserwartung dar. Derzeit beträgt die Lebenserwartung in Belgien 84,77 Jahre für Frauen und 80,63 Jahre für Männer.
Bis 2070 wird diese durchschnittliche Lebenserwartung – laut Statbel – auf 89,9 Jahre für Frauen und 88,1 Jahre für Männer weiter ansteigen. Dabei wird sich der noch bestehende Unterschied in der Lebenserwartung zwischen Männern und Frauen zugunsten der Männer in Zukunft nivellieren.
Auf der anderen Seite der Medaille lohnt ein Blick auf die Bevölkerungsentwicklung. „Die Geburtenrate wird niedrig bleiben“, lautet der Befund von Statbel. Seit 2008 ist die durchschnittliche Zahl der geborenen Kinder in Belgien von 1,86 auf 1,46 gesunken.
Schere zwischen arm und reich in Belgien klafft weiter auseinander
Belgien gehört zu den wohlhabendsten Ländern der Eurozone, weist jedoch eine eher mittelmäßige Verteilungsgerechtigkeit auf. Dies geht aus einer Analyse der Nationalbank (NBB/BNB) vom November 2024 hervor, die die Vermögensverteilung in Belgien mit der anderer Euro-Länder vergleicht.
Das durchschnittliche Vermögen von Privathaushalten in Belgien beläuft sich nach Angaben der Nationalbank auf rund 555.000 Euro. Im europäischen Vergleich ist dies ein hoher Wert. Die Nationalbank sieht politischen Handlungsbedarf bei der Vermögensverteilung – im Klartext in einer Reform der Besteuerung.
Ob sich die Dienstag-Demonstranten mit ihren an der sozialen Wirklichkeit teilweise ausgeblendeten „Facts & Figures“ in einer Vogel-Strauß-Politik ins eigene Fleisch schneiden, ist noch nicht ausgemacht. Aber sicher ist, dass die politischen Kräfte des Landes ungeachtet des Parteiengezänks den Bürgerinnen und Bürgern eine Zukunft in sozialer Sicherheit schulden. Daran wird sich auch die Föderalregierung messen lassen müssen.
Die Sozialpartner, Arbeitgeber und Gewerkschaften, sowie die wohlhabenden Schichten der belgischen Bevölkerung sind gehalten, den Beweis anzutreten, dass trotz gesellschaftlicher Fliehkräfte eine belgische Solidarität – zwischen Arm und Reich, aber auch Nord und Süd – tatsächlich noch existieren kann. Es gilt den Druck der Straße in zielgerichtete sozialpolitische Lösungen überzuführen.
Belgien steht ein heißer Herbst bevor
Schon hat Thierry Bodson, der Vorsitzende des sozialistischen Gewerkschaftsbundes, eine für den sozialen Zusammenhalt des Landes gefährliche Prognose mit Sprengkraft gestellt: „Der Kampf gegen die Regierung De Wever ist nicht nur der Kampf eines Tages oder eines Jahres ist – es ist der Kampf einer ganzen Generation“. Den flämischen und frankophonen kulturell oft zerrissenen Landesteilen steht ein heißer Herbst bevor.







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