Von Anne Kotzan
Es ist Winter. Ich koche gerne und favorisiere saisonale sowie regionale Produkte – keine langen Transportwege und kein mit allerlei Hilfsmitteln gezogenes Gemüse, dem es nicht an Farbe, aber an Geschmack mangelt. „Die Chiccorée-Saison dauert von Oktober bis April“, verkündete das Colruyt-Magazin. Das war neu für mich, denn Erdbeeren gibt es ja heutzutage auch das ganze Jahr hindurch. Nun ist also Chiccorée-Zeit und daher wird er in jedem besseren Gemüseregal in verschiedenen Varianten und Preisklassen angeboten. Sorgsam gestapelt auf dunklem Seidenpapier liegen die weiß-blassgelben Salatknospen dicht an dicht in Kisten. Sie konkurrieren mit den abgepackten Geschwistern verschiedener Produzenten und den nur daumengroßen Exemplaren, die auch in rotviolett zu haben sind. In Belgien wird Chiccorée regelrecht zelebriert.
Das belgischste aller Gemüse
Für die Belgier hat Chiccorée nicht nur einen festen Platz im Speiseplan, sie haben dies für seinen bitteren Geschmack bekannte Gemüse auch entdeckt und mit der Züchtung begonnen. Obwohl auch der Rosenkohl auf die Belgier zurückgeht und bereits seit 1587 Erwähnung findet (auch als Brüsseler Sprossen, Choux de Bruxelles oder Brussels sprouts), hat er nicht die gleiche Popularität im Land. Chiccorée noch ein vergleichbar junges Gemüse. Über seine Entdeckung im Raum Brüssel-Leuven-Mecheln in der Mitte des 19. Jahrhunderts gibt es verschiedene Anekdoten. Sie basieren alle auf dem Anbau der Wegwarte (lat. Cichorium intybus), deren Wurzel unter dem Namen Zichorie bereits bei Hildegard von Bingen eine Rolle als Heilpflanze spielte.
Liebeselexier und Kaffeeersatz
Leider ist die Wegwarte aus dem ländlichen Landschaftsbild weitgehend verschwunden. Wer einmal das Blau ihrer sternförmigen Blüten gesehen hat, wird es nie wieder vergessen, ihre rauhen Stengel und ihr kleines Blatt sind dagegen unscheinbar. Die Blüten sind ständig auf der Suche nach der Sonne, weshalb die Wegwarte auch als Sonnenwirbel bekannt ist, und im Volksmund sagt man ihnen nach, sie schauen nach ihrem Liebsten aus. Bereits im Altertum war die Wegwarte als Heilpflanze bekannt. Als magenstärkender Salat wurde sie von Griechen und Römern gegessen. Ihr Saft galt als Mittel gegen Augenleiden und Vergiftungen. Und die alten Germanen brauten aus der Wegwarte Zaubertränke, die in Liebesdingen hilfreich sein sollten. Mit Honig und Kletten in Wein zu “honigwurz” verkocht, setzte Hildegard von Bingen die Wurzel gegen Verdauungsstörungen, Brustschmerzen und Heiserkeit ein. In der Tat haben die Bitterstoffe der Wurzel – und heute auch des Chiccorée – eine positive Wirkung auf die Darmtätigkeit. Viel später wurden die Wurzeln der Wegwarte, die Zichorie, als Kaffeeersatz kultiviert, wovon unsere (Ur-)Großeltern noch zu berichten wissen. Ich selbst kenne den Kaffee als Muckefuck, Kinderkaffee, weil ohne Koffein. Heute erfreut sich Zichoriekaffee unter dem Label „gesunde Ernährung“ wieder großer Beliebtheit.
Belgier und ihre Anekdoten
Als Kaffeeersatz spielte die Zichoriewurzel im heutigen Belgien zuerst während Napoleons Kontinentalsperre eine Rolle. Wer genau die Chiccorée-Knospen als frisches Gemüse im Winter entdeckt hat, ist ungewiss. Vielleicht waren es Bauern, die ihren Ernteüberschuss in Erde im Gewächshaus einlagerten und dann die kräftigen blassen Triebe entdeckten. Möglicherweise war es ein Experiment des Chefgartenbauers Bresier am Botanischen Garten in Brüssel. Erwogen wird auch wird ein Bezug zur Gründung des Königreiches Belgien im Jahr 1830. Ein Bauer habe, bevor er in den Krieg gegen die Niederländer zog, seine Zichoriewurzel-Ernte unter der Erde in einem Schuppen versteckt, um sie später zu Ersatzkaffee zu verarbeiten. Nach seiner Heimkehr entdeckte er dann die frischen saftigen Triebe. Frisches Gemüse im Winter war seinerzeit ein ungemeiner Luxus.
Tradition versus Fortschritt
Jedenfalls begann die gezielte Züchtung der Chiccorée-Knospen Mitte es 19. Jahrhunderts und hat sich heute dank Hydrokultur auf das ganze Jahr ausgeweitet. Doch Gourmets schwören auf die traditionelle Anbaumethode, die einen besonderen Geschmack zwischen Süße und Bitterkeit hervorbringt. Die Wurzeln gedeihen über den Sommer, werden im späten Herbst vor dem ersten Frost geerntet und dann in dunklen Räumen in Erde eingelagert. Dazu wird jede Wurzel per Hand dicht an dicht gesetzt, dann alles mit Erde bedeckt. In der Wärme und Dunkelheit dauert es etwa drei Wochen bis zur Ernte der prallen Knospe. Jede Wurzel bringt nur eine Knospe hervor.
Namen-Wirrwarr
Chiccorée kennt man in Deutschland vor allem als Salat. Der von der Wurzel abgeleitete Name mutet französisch an, also scheint es in Belgien mit der Bezeichnung kein Problem zu geben. Weit gefehlt. Auf dem Markt habe ich es selbst versucht und bekam auf meinen Wunsch nach Chiccorée einen Endiviensalat. Und das Verrückte daran ist, hätte ich nach Endivie gefragt, hätte ich Chiccorée bekommen. Die Flamen nennen das Gemüse „witloof“, also nach den hellen Blättern „weißes Laub“. Die Wallonen haben mit „chicon“ einen eigenen Namen, der auch in Flandern gebräuchlich ist.
Auf keiner Speisekarte
„Oh, wie bitter!“, sagen die meisten bei ihrer ersten Verkostung des Chiccorée, aber genau das schätzen die Gourmets an diesem Wintergemüse. Es ist nicht nur bitter, sondern hat auch eine frische Süße und mit Äpfeln, Orange, Käse und Walnüssen kann man einen herrlichen Salat kreieren. Aber man kann ihn auch kochen, backen, fritieren, schmoren, grillen und marinieren. Mit Butter geht er eine hervorragende Allianz ein, und Wild und Geflügel verleiht er eine besondere Note. Als Auflauf mit Schinken ummantelt und mit Käse überbacken in einer Sahnesauce gehört er zu den typischen Gerichten. Doch auf keiner Speisekarte findet man ihn, wie er traditionell vor allem von den Flamen zubereitet wird. Feingeschnitten wird er unter heiße Stampfkartoffeln (stoemp) gezogen – einfach, aber lecker.
Chiccorée statt Cynar
Die Italiener haben ihren Cynar aus Artischocken als Digestif und die Belgier ihren Chiccorée. Es sind gerade die Bitterstoffe, das Intybin, die Artischocke und Chiccorée so gesund machen. Unser Organismus braucht gewisse Bitterstoffe, denn sie greifen regulierend in die Funktion der Verdauung ein, weil sie die Tätigkeit von Leber, Galle, Magen und Bauchspeicheldrüse fördern. Sie regen außerdem Blutbildung und Kreislauf an und tragen bei Erschöpfung zu rascher Kräftigung bei. Außerdem enthält die Pflanze Vitamin C, Vitamine der B-Gruppe, ist reich an Provitamin A und Folsäure, enthält Natrium, Kalium, Magnesium, Calcium, Eisen und Phosphor. Alles gute Gründe, um sich mit dem belgischsten aller Gemüse anzufreunden.
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