Von Angela Franz-Balsen und Jürgen Klute.
Ausgerechnet Charleroi? Etliche Mitglieder des Vereins Belgieninfo.net rieben sich die Augen, als sie das Ziel der diesjährigen Exkursion zur Jahreshauptversammlung lasen. Sie, die schon Jahrzehnte in Belgien leben, waren noch nie auf die Idee gekommen, Charleroi die Ehre zu erweisen. Namur ist Hauptstadt der Wallonie, Brügge, Gent, Antwerpen – das sind die „Schmuckstücke“, die wir unseren Gästen zeigen. Wer kennt schon mehr von dem vormals reichen Industriestandort als den Flughafen für Billigflieger? Wir wollten es wissen und erlebten, wie informativ, anregend und berührend ein Besuch im Zentrum des „Schwarzen Landes“ sein kann. 142 Mio EUR Fördergelder der EU stehen dort für die Strukturförderung zur Verfügung, die Neuerfindung der totgesagten Metropole ist in vollem Gange.
Immerhin zwanzig Interessierte sammeln sich am Samstagmorgen im Zentrum von Charleroi vor dem Tourist-Office. Außer anderen Touristengruppen begegnen wir nicht vielen Menschen, die Innenstadt wirkt verwaist, die meisten Geschäfte sind geschlossen. Schon scheint ein Vorurteil bestätigt: nix los hier. Aber ein „Carolo“, so heißen die Einheimischen, klärt auf: Der Sommerschlussverkauf hat die Bewohner in die neue große Shopping-Mall Rive Gauche in der Unterstadt gelockt. „Morgen, am Sonntag, ist hier in allen Straßen Markt, da herrscht ein Gewimmel wie an der Gare du Midi in Brüssel“. Offenbar sind wir am falschen Tag im Zentrum der Stadt, deren verflossenen Reichtum und Glanz Zechen und Stahlwerke schufen.
Verborgene Schätze
Im Rathaus finden immerhin Hochzeiten statt, wir müssen uns beeilen, vor einer solchen den Ratssaal mit dem Standesamt zu besichtigen. Die edle Mischung aus Klassizismus und Art Deco aus den 1930er Jahren (Architekt Joseph André), die wir hier sehen, verschlägt uns die Sprache.
Von der eleganten Treppenhausbeleuchtung über Parkett aus Mahagoni (aus den Kolonien) bis zu den enormen Glasperlenlüstern im Sitzungssaal (jeder von ihnen wiegt rund 450 kg), alles strahlt auf dezente Weise Reichtum aus. Farbe in das eher dunkel gehaltene Foyer bringen 12 Géants (Riesenpuppen), die mit ihrer Ausstaffierung verschiedene Berufe darstellen und deren Gesichter authentische Personen nachbilden. Ein rotes Halstuch tragen sie fast alle, Attribut der Bergleute. Aus dem Jahr 2016 stammt die Symbolfigur für das heutige Charleroi: eine üppige Brünette mit rabenschwarzer Mähne und Tattoos, die italienischen Immigranten lassen grüßen.
Die Stadtgeschichte beginnt im Jahr 1666 mit einem Festungsbau und ist äußerst wechselhaft: Neben Ludwig XIV. und Napoleon haben Herrscher anderer Länder ihre Spuren hinterlassen, anhand einer Kopie des von Ludwig XIV. in Auftrag gegebenen Stadtreliefs und mit audiovisueller Unterstützung wird das für die Rathausbesucher in Szene gesetzt. Es waren die Spanier, die den Namen „Charleroi“ vergaben, als Referenz an ihren König Charles II, der schon als Kleinkind die Rolle des Herrschers übernehmen musste. Wir erklimmen noch den 70 m hohen Belfried des Rathauses und haben jetzt erstmalig einen Überblick über die inzwischen begrünten Halden – im Winter liebevoll als Alpen bezeichnet – , die Industriebrachen mit dem letzten erhaltenen Hochofen Belgiens (HF4 La Marcinelle) und das letzte aktive Stahlwerk.
Dem Rathaus gegenüber befindet sich die Basilika St. Christopher, 1667 als Kapelle auf Befehl Ludwigs XIV. errichtet. 1957 wurde sie ebenfalls von Joseph André erweitert, unter anderem durch eine Kuppel, die allein über 40m hoch ist. Glanzpunkt des schlichten Baus ist jedoch der aus goldenen Mosaiksteinchen gestaltete Altarraum.
Fotografie als Spiegel gesellschaftlichen Wandels
In sengender Mittagshitze erfrischen uns die kühlen Räume des ehemaligen Karmeliterklosters, in dem das einzigartige Musée de la Photographie (das größte seiner Art in Europa) untergebracht ist. Unsere Führerin gestaltet den Rundgang entlang dem essentiellen Ausstellungskonzept: die Entwicklung der Fotografie seit ihrer Erfindung 1826 wird Raum für Raum anhand charakteristischer Fotos nachgezeichnet, so dass – abgesehen von den Fortschritten in der Fotographie – eine faszinierende Abfolge von Gesellschaftsanalysen deutlich wird: Portraits bedeutender Personen, Kriegsberichterstattung, Industrialisierung, Naturidylle, Armut und Elend, kollektives Aufatmen nach dem 2. Weltkrieg. Und zu Beginn des 21. Jahrhunderts: das Individuum, aufs kunstvollste einsam in Szene gesetzt.
Neben dieser Dauerausstellung präsentiert das Museum immer das Werk eines oder mehrerer Künstler in Sonderausstellungen, derzeit unter anderem die beeindruckenden Portraits, die Giancarlo Romeo von Menschen mit Behinderungen gemacht hat (Siehe www.museephoto.be).
Bois du Cazier – Gedenkstätte und Industriemuseum
Den Abschluss des Ausflugs nach Charleroi sollte ein Besuch der Zeche Bois du Cazier bilden.
Doch die Besucherpforten schlossen gerade, als unsere Gruppe dort ankam. So gab es nur einen kurzen Blick von Außen auf dieses Industriedenkmal und –museum. Doch der reichte aus, um zu einem erneuten Besuch zu motivieren.
Das Industriemuseum befindet sich in den übertägigen Gebäuden der ehemaligen Steinkohlenzeche, die von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt wurden. Es gibt einen Überblick über die industrielle Revolution in Wallonien, die den früheren Reichtum Charlerois und der Wallonie begründete. Ein Wanderweg über die Halden, die als Nebenprodukt des Bergbaus entstanden, öffnet einen Blick auf das heutige Charleroi.
An diesem Erinnerungsort an die Industrialisierung Walloniens wird auch der Gefahren gedacht, die vor allem mit dem Bergbau verbunden waren. Eine Gedenkstätte erinnert an ein schweres Grubenunglück auf dieser Schachtanlage im Jahr 1956 (Espace 8 aut 1956). Bei diesem Unglück kamen 262 Bergleute aus 12 verschiedenen Ländern zu Tode.
Stadt im Aufbruch
Lässt sich die Vergangenheit einer Stadt anhand von Relikten und Ruinen relativ leicht begreiflich machen, sind zukünftige Entwicklungen im Rahmen eines Kurztrips schwer zu vermitteln. Deshalb hier einige Anmerkungen zu den millionenschweren Regional- und Stadtentwicklungsvorhaben, die Charleroi aus der Bedeutungslosigkeit und Tristesse zurück in die Schlagzeilen katapultiert haben (z.B. 25 Seiten Dossier im moustique „Charleroi – Le renouveau d’une ville“): Seit Jahren fließen Fördergelder aus unterschiedlichen Fördertöpfen in die Strukturförderung, in Bildung und Kultur, in den Handel, etc.
Die Wirtschaftsförderung setzt auf die Entwicklung Charlerois als Wissenschaftsstandort mit den Schwerpunkten Aeronautik, ICT und Biotechnologie. Nachdem die Unterstadt bereits modernisiert wurde, soll nun die Oberstadt im Rahmen des Masterplans „District Créatif“ (Charleroi DC) mit Leben erfüllt werden. Dazu gehören unter anderem die Renovation der Messehallen, des Palais des Beaux Arts, der Neubau eines Kongresszentrums – die drei Gebäude durch ein Energiesparkonzept zum Komplex miteinander verbunden –, ein Universitätscampus, ein Businesspark und viele generelle Stadterneuerungsmaßnahmen.
Bereits fertig ist das „Quai 10“, der Umbau eines ehemaligen Bankgebäudes in der Unterstadt unweit des Flusses Sambre, dieser Komplex holt mit Kinos und Videospielen die Bevölkerung aller sozialen Schichten ab. Dort unten sind die meisten der trendigen Locations, ein Hochofen führt ein neues Dasein als Rockhalle („Le Rockerill“ ), es gibt Street Art, Festivals aller Art, Restaurants, Clubs – man muss nur wissen, wo ….! Um das herauszufinden braucht man mehr als einen Tag. Viele Informationen finden sich im Internet (siehe unten). Belgieninfo sollte das ehrgeizige Projekt im Blick behalten.
Die Jahreshauptversammlung: Blick zurück nach vorn
Beschwingt durch das Gefühl mit und durch Belgieninfo viel Neues über das Land, in dem wir schon lange leben, erfahren zu haben, verlief die Jahreshauptversammlung (eingeschoben im Café des Fotografiemuseums) in guter Stimmung. Vorsitzender Rudolf Wagner konnte eine positive Bilanz ziehen – die Zugriffszahlen steigen weiterhin – und auch der Schatzmeister zeichnete trotz des geringen Vereinsbudgets kein düsteres Bild für die kommenden Jahre. Für die notorische Frage nach dem Nachwuchs gab es die kluge Empfehlung, das Potenzial von schreibfreudigen Unruheständlern zu nutzen – ohne dabei Schritte in die Zukunft (Social Media) zu vernachlässigen. Wir machen es wie Charleroi: Auf alten Fundamenten zukunftsfähig werden!
Mehr Info unter:
https://www.paysdecharleroi.be
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