Von Rainer Lütkehus.
Kommt nun am 29. März ein ungeregelter Brexit oder nicht? Politiker halten das für wahrscheinlich, die Börsianer sehen das gelassener. Die Börsen, wo die Zukunft gehandelt wird, brachen jedenfalls nicht ein, nachdem das britische Parlament den zwischen der EU und der Premierministerin Theresa May ausgehandelten Brexit-Deal mit großer Mehrheit abgelehnt hat. An der Brüsseler Börse Euronext gewann der Bel20-Index sogar 0,3 Punkte hinzu. Die Börsianer halten ein Aufschieben des Termins für möglich. Die Frage ist nur bis wann.
Den Zeitgewinn könnten die belgischen Unternehmen nutzen, um sich auf einen Brexit ohne Deal vorzubereiten. Denn nur 20 Prozent der belgischen Unternehmen, die mit Großbritannien Handel treiben, haben sich auf Zollformalitäten vorbereitet und die dafür notwendige Nummer EORI (Economic Operator Registration an Identification) bei der belgischen Föderalregierung angefordert. Außerdem gibt es zu wenige Zollbeamte. Das Finanzministerium hat vorerst 141 zusätzliche Zollbeamte eingestellt. Finanzminister Alexander De Croo möchte die belgischen Unternehmen für die neuen Zollformalitäten sensibilisieren. Das begrüßte der belgische Unternehmerverband FEB.
Belgien wäre das das am drittmeisten betroffene Land außer England selbst
„Belgien zählt mit Irland und den Niederlanden zu den von einem Brexit am meisten betroffenen Ländern“, so FEB-Chef Pieter Timmermans. „Auch wenn alles getan werden muss, um einen No-Deal-Brexit zu verhindern, appelliere ich an alle unsere Unternehmen, dem Aufruf der Zollämter Folge zu leisten und sich die EORI-Nummer zu besorgen.“
Der FEB hält zwei Optionen für möglich, um einen ungeregelten Brexit am 29. März zu verhindern: 1. Theresa May könnte um einen Aufschub bitten, was ihr die 27 EU-Mitgliedstaaten zugestehen würden. In dieser Zeit könnte ein zweites Referendum stattfinden oder Großbritannien optiert für das Norwegen-Modell. Norwegen gehört zum europäischen Wirtschaftsraum (EWR). 2. Großbritannien könnte seinen Austrittsantrag einseitig zurückziehen – und es später noch einmal versuchen. Das ist rechtlich möglich, wie der europäische Gerichtshof kürzlich bestätigt hat.
Die Ökonomen sind sich einig: Egal ob harter oder leichter Brexit. Überall in der EU litte die Wirtschaft unter einem Austritt des Vereinten Königreichs aus der EU.
Strittig ist nur das Ausmaß. Es gibt nur grobe auf Simulationen beruhende Schätzungen. Klar ist, dass vor allem Großbritannien leiden würde. Und Belgien? Der Außenhandel ist Belgiens Achillesferse. Es hat in der EU mit Abstand die höchste Warenexportquote. Deshalb dürfte seine Volkswirtschaft bei Zugangsbeschränkungen zu einem so großen Markt wie dem britischen empfindlich reagieren. Immerhin ist Großbritannien der viertgrößte Handelspartner Belgiens nach Deutschland, Frankreich und den Niederlanden. Aus britischer Sicht ist Belgien sechstgrößter Lieferant. Importzölle und –prozeduren wären ein großes Exporthindernis für die belgische Wirtschaft, insbesondere für die flämische, denn 85 Prozent aller belgischen Exporte nach Großbritannien kommen aus Flandern. Und das Königreich erwirtschaftet Handelsüberschüsse.
Belgiens Außenhandel mit dem Vereinigten Königreich * 2017 (in Mrd. Euro)
Warenexporte nach |
19,7 |
Warenimporte aus |
13,0 |
Handelsdefizit(-)/überschuss (+) |
+6,7 |
jüngste jahresbezogene Zahlen, auf die erste Stelle hinter dem Komma gerundet
*) nationales Konzept: nur Gebietsansässige,
Quelle: NBBStat, Januar 2019
Regionale Aufteilung des belgischen Außenhandels mit Großbritannien 2017 (in Mrd. Euro)
Exporte |
Importe |
|
Flandern |
16,2 |
11,6 |
Wallonie |
2,7 |
1,2 |
Region Brüssel |
0,6 |
0,4 |
*) nationales Konzept: nur Gebietsansässige,
jüngste jahresbezogene Zahlen, Oktober 2018, auf die erste Stelle hinter dem Komma gerundet
Quelle: NBBStat
Am schlimmsten wäre ein „No-Deal“-Szenario
Die katholische Universität Löwen (KUL) hat untersucht, welche Branchen in Belgien am meisten leiden würden. Die belgische Teppich-, die Webwaren- und die Süßwarenindustrie sind demnach sehr vom britischen Markt abhängig. Die Exporte dieser Branchen nach UK machen mehr als 20 Prozent ihrer Gesamtexporte aus, spezielle Webwaren und Wandteppiche 37 Prozent. Zwar sind ihre Exporte nach UK im Vergleich zu denen anderer Branchen klein. Aber ein Brexit würde die Existenz vieler solch spezialisierten Betriebe gefährden.
Leiden würde auch, aber in geringerem Umfang, Belgiens Vorzeigebranche: die Chemie. Laut den Zahlen der belgischen Zentralbank gehen rund sechs Prozent aller exportierten Chemiewaren nach UK. Die Auto- und die Luftfahrtindustrie und mit ihr die Zulieferindustrie wäre dem Brexit mit einem Anteil von 14 Prozent ausgesetzt. Volkswirtschaftlich würde hier der größte Schaden entstehen, denn die Exporte der Fahrzeugindustrie machen 22 Prozent der Gesamtexporte (d.h. aller Branchen) Belgiens nach Großbritannien aus. Schwerwiegende Konsequenzen für den Hafen von Zeebrugge, dessen Schiffsverkehr nach Großbritannien 45 Prozent des Umsatzes ausmacht.
Aber nicht nur Belgiens Realwirtschaft hat enge Verflechtungen zur britischen Insel, sondern auch die Finanzwirtschaft. Mehr als 20 Milliarden Euro betragen dort die belgischen Investitionen.
Am schlimmsten wäre ein „No-Deal“-Szenario: Experten errechneten, dass das mehr als 40.000 Arbeitsplätze in Belgien kosten würde. Laut der Ratingagentur Moody‘s würde Belgien sogar stärker leiden als die Niederlande.
Und schließlich sind da ja nicht nur Unternehmen, sondern auch Menschen betroffen. Schwer auszumachen wäre die Situation der in Belgien lebenden Briten. Rund 18.000 haben laut Angaben der belgischen Auslandsbehörde eine Aufenthaltsgenehmigung im Königreich. Das sind 2 Prozent der Einwohner. Viele haben schon versucht, die belgische Staatsangehörigkeit zu bekommen, weil sie nicht wissen, ob sie künftig in Belgien leben und arbeiten können wie bisher. Aus Großbritannien entsandte Arbeitnehmer würden sofort unter das belgische Sozialversicherungssystem fallen, vorausgesetzt sie bekommen überhaupt eine Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung in Belgien.
Die Meldungen zum Brexit überschlagen sich stündlich und man weiß eigentlich nicht mehr, was man noch glauben kann. Die einen sagen, ein chaotischer Brexit werde immer wahrscheinlicher, die anderen, man werde eine vernünftige Lösung finden. Man kann nur hoffen, dass letztendlich die Vernunft siegt. Vor allem die Vernunft der britischen Politiker. Das muss aber vor dem 29. März passieren, als in 70 Tagen.
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