„Brüssel ist die Stauhauptstadt Europas“ entschuldigte sich EU-Parlamentspräsident Martin Schulz für sein verspätetes Eintreffen in der Vertretung der Deutschprachigen Gemeinschaft (DG) zur abendlichen Buchvorstellung „Klassiker des europäischen Denkens“. Mit seinem Freund Winfried Böttcher, dem Herausgeber des Kompendiums über die „Friedens- und Europavorstellungen aus 700 Jahren europäischer Kulturgeschichte“, teile er seit vielen Jahren „das bittere Schicksal, aus der Aachener Region zu stammen“. Im Gegensatz zum langjährigen – inzwischen emeritierten – Professor an der Rheinischen Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) Aachen – habe er seinen Dialekt auch als Präsident des Europäischen Parlaments nie ablegen können.
Ein weiteres Geständnis machte der SPD-Politiker seinen rund 100 Zuhörern. Obwohl er jetzt seit 20 Jahren schon in Brüssel arbeite, sei er noch nie in der DG-Vertretung gewesen: „A la bonheur, schöne Vertretung“, sagt er und läßt seinen Blick das repräsentative Treppenhaus im Foyer hochwandern. Der Leiter der Vertretung, Alexander Homann strahlt und dankt Martin Schulz für sein Kommen und gratuliert ihm gleichzeitig, unter dem Applaus der Anwesenden, zur bevorstehenden Verleihung des Karlspreises 2015 im Mai in Aachen.
Das vorliegende 780seitige Werk über 700 Jahre europäische Geistesgeschichte sei eine Mammutarbeit und wissenschaftliche Steinbrucharbeit, zollt Schulz den rund 100 Autoren seine Bewunderung. „Ich selbst habe nur mit dem Geleitwort und der Mitarbeit an einem Kapitel beigetragen”.
Europa stehe im 21. Jahrhundert vor gewaltigen Herausforderungen, spannt der EU-Parlamentspräsident den Bogen zur aktuellen Politik auf dem europäischen Kontinent. Die Europaskepsis der Bürger und das Desinteresse an der EU wachse. Dass ein vetoberechtigtes Mitglied der Vereinten Nationen eine Grenze in Europa willkürlich verschoben habe, sei ein Bruch des Völkerrechts. „Die Lösung des Konflikts auf der Krim liegt nicht in Washington, sondern in Brüssel und Moskau“.
Der Reichtum in Europa
Im Vergleich zu anderen Regionen in der Welt sei der Reichtum in Europa enorm, auch wenn er nicht gerecht verteilt sei. Angesichts von 27 Millionen Arbeitslosen in der EU28 und einer Jugendarbeitslosigkeit von über 60 Prozent in einzelnen EU-Staaten müsse die Politik für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen.
Schulz geißelt die gezielte Steuervermeidungsstrategien der großen global players: „Wenn ich mit google-Leuten hier in Brüssel rede, erwecken sie den Eindruck, sie seien ein Wohltätigkeitsunternehmen“. Solange google aber in Deutschland drei Milliarden Euro Gewinne im Jahre mache und keinen einzigen Euro Steuern bezahle, könne dies dem EU-Bürger mit Recht nicht vermittelt werden.
In der sich anschliesssenden Diskussion mit den Gästen in der DG-Vertretung erteilte Schulz allen Ausstiegsszenarien aus dem Euro eine klare Absage. „Der Euro ist eine starke Währung“. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands sei die Idee gewesen, keine DM-Hegemonie durch Deutschland als Klotz in der Mitte Europas aufkommen zu lassen. Die Vorstellung den Euro abzuschaffen, sei absurd und würde die deutsche Wirtschaft schwächen. „Die Rückkehr zur Drachme in Griechenland oder zur Lira in Rom ist keine Lösung“. Die Zeche für milliardenschwere Spekulationen und systematische Steuervermeidung dürften nicht länger die kleinen Leute zahlen, weder in Spanien noch in Griechenland.
Bevor Schulz zum nächsten Termin im Brüsseler Politkosmos aufbrach, machte er sich erneut für seinen Aachener Professorenfreund Winfried Böttcher stark: „Als ehemaliger Buchhändler empfehle ich Ihnen, das Buch zu kaufen“. Dadurch ergebe sich der doppelte Vorteil, das Buch lesen zu können und einen hohen kulturellen Wert zu besitzen. Gleichzeitig würde das Leben der vielen Autoren gewürdigt, weil sie sich von den Honorareinnahmen auch etwas kaufen könnten.
Text und Foto: Thomas A. Friedrich
Info:
Klassiker des europäischen Denkens, Hrsg.: Winfried Böttcher, 2014, 781 S., geb. 98,- Euro, ISBN 978-3-8329-7651-4, www.nomos-shop.de/19297
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