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Armer Michel!

Marion StandpunktMan kann für oder gegen Belgiens nicht mehr so neue Regierung sein, für oder gegen ihre Sparpolitik, für oder gegen den „Indexsprung“ – in einem sind sich Freunde und Feinde der Mannschaft von Charles Michel einig: Der Premier ist schwach. Was mit dazu geführt hat, dass sich in Belgien seit der letzten Parlamentswahl im Mai 2014 nichts getan hat, abgesehen von erbitterten Graben- und Straßenkämpfen. Marion Schmitz-Reiners kommentiert.

Noch nie hatte Belgien einen Premier, der so unsichtbar war wie Charles Michel. In einem von Streiks heimgesuchten Land mit einer riesigen Schuldenlast scheint es dem wallonischen Liberalen nicht gegeben, der Bevölkerung eine Art von Richtung oder Perspektive aufzuzeigen. Zweimal machte er von sich reden, und das auf denkbar unglückliche Art und Weise: Zusammen mit N-VA-Chef Bart De Wever ließ er sich vom flämischen Unternehmerverband VOKA und diese Woche vom wallonischen Unternehmerclub „Cercle de Wallonie“ einladen. Während er bei der VOKA-Veranstaltung in Antwerpen im Schatten von De Wever blieb, flog ihm in Namur eine Portion Pommes mit Ketchup und Majonäse ins Gesicht.

Nicht die feine Art, gegen den Premier und seine unternehmerfreundliche Politik zu protestieren. Aber auch Menschen, die es gut meinen mit dem 39-jährigen Premier, schütteln den Kopf über seine Unfähigkeit, am richtigen Ort das richtige Wort zu sagen. Dafür holen seine Minister für ihn die Kastanien aus dem Feuer, wenn sie sich nicht gerade widersprechen oder sich gegenseitig anfeinden.

In Letzterem glänzen vor allem die flämisch-nationalistische N-VA und die flämischen Christdemokraten von der CD&V. Während Bart De Wever – der ebenfalls aus dem Scheinwerferlicht bleibt – bei jeder passenden Gelegenheit von seinen Ministern bekräftigen lässt, dass am Sparprogramm der Regierung kein Jota abgeändert werde, stellt sich Kris Peeters von der CD&V regelmäßig der Presse, um den Gewerkschaften die Versöhnung anzubieten: Der Koalitionsvertrag könne durchaus noch diskutiert werden. Der vierte Regierungspartner, die flämischen Liberalen (Open VLD) begnügt sich unterdessen damit, die Statements der N-VA öffentlich abzunicken.

Dieses ebenso uneffiziente wie unersprießliche Schauspiel zieht sich bereits seit sieben Monaten hin. In diesen Monaten passierte nichts, außer dass der Bevölkerung gehörig Angst eingejagt wurde. Jeder fragt sich ängstlich, wann die erste Stromrechnung in den Briefkasten fällt, die angeblich 30 Prozent höher sein soll als die bisherigen (die auch schon nicht niedrig waren). Wann zum ersten Mal eine Immatrikulationsgebühr von 890 Euro für den studierenden Sprössling entrichtet werden muss. Wann die Preise für den Öffentlichen Nahverkehr erhöht werden und wann das Rentenalter angehoben wird. Und ob es überhaupt zu der für 2015 angekündigten Aussetzung der Anpassung der Löhne an die Lebenshaltungskosten kommt, den so genannten Indexsprung – auch hier widersprechen sich die Minister.

Belgiens Premiers von Paul-Henri Spaak über Jean-Luc Dehaene bis Elio Di Rupo traten in solchen Krisenzeiten vors Mikrofon oder vor die Kamera. Und sie hatten ihre Minister im Griff. Charles Michel dagegen schweigt. Man kann ihm zugutehalten, dass sein Amtsantritt eine Verlegenheitslösung war, denn traditionell wird der Vorsitzende der stärksten Regierungspartei Premier, und das wäre nach der letzten Parlamentswahl im Mai 2014 Bart De Wever gewesen. Der aber verzichtete aus taktischen Gründen und ließ Kris Peeters den Vortritt. Jedoch kam der allgemein beliebte Peeters nicht zum Zuge, weil seine Parteifreundin Marianne Thyssen Europakommissarin wurde. Aber muss ein Premier seine Auftritte deshalb unbedingt auf private Zirkel beschränken, die dazu noch ungeschickt gewählt sind?

Auch Di Rupo hat bereits die Lohnnebenkosten in Belgien gesenkt und das Land deshalb wieder attraktiver für Unternehmer gemacht. Aber er hatte Verständnis für die Nöte der entlassenen Ford-Arbeiter und die Forderungen der Gewerkschaften. Man kann sich so gar nicht vorstellen, dass Michel einmal persönlich mit dem Betriebsrat eines bestreikten Unternehmens redet, wie sein Vorgänger. Aber Michels Vater war auch kein Bergmann. Das Wort „arm“ ist relativ.

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