Von Lale Fröhlich.
Am Sonntagabend, dem 17. April 2016 stand ich mit meinem großen Backpack auf den Schultern und meinem Fahrrad am Gare du Midi und war von mir selbst erstaunt, dass ich es mit meinem ganzen Gepäck nach Brüssel geschafft hatte. Ich war am Vortag erst von einer Reise auf Kuba wieder in meiner Heimatstadt Hamburg gelandet. Dort hatte ich quasi nur meinen Drahtesel eingepackt und war in die Bahn Richtung Westen gestiegen. Was erwartete mich wohl nun in den kommenden Monaten in der Hauptstadt Europas?
So spannend es auch war, auf Kuba einmal „Kommunismus live“ zu erleben, so bin ich doch von der Reise mit der noch größeren Überzeugung zurückgekommen, dass unsere Vielfältigkeit hier in Europa unheimlich wertvoll ist. Vielfältigkeit beziehe ich dabei auf die Politik, auf wirtschaftliche Modelle (im Kapitalismus) und auf die Kulturen sowie auf das Recht, seine eigene Meinung zu den unterschiedlichen Themen haben zu dürfen. Alle Vielfältigkeit Europas prallt in Brüssel aufeinander…
Ich habe von April bis Juli 2016 meine Verwaltungsstation des Rechtsreferendariats in der deutschen Botschaft in Belgien absolviert. Brüssel – die Hauptstadt Europas – hat mich immer angezogen. Ich bin überzeugte Europäerin und als solche wollte ich einmal eine Zeit lang in Brüssel – am Puls der Zeit – leben. Ich habe durch meine Tätigkeit in der deutschen Botschaft natürlich nicht hautnah mit den europäischen Institutionen zusammen gearbeitet. Dennoch bekommt man in Brüssel so viel mit, einfach nur weil man sich mitten drin aufhält.
Veranstaltungen zuhauf
Die erste Woche im April war noch nicht vergangen, da war ich gleich schon auf mehrere Veranstaltungen zum bevorstehenden Referendum der Briten am 23. Juni aufmerksam gemacht worden. Genauso wurden die schwelende Eurokrise und das Problem sehr hoher Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa in vielen Veranstaltungen thematisiert. Ich könnte jetzt über sie eine ewig lange Liste schreiben Letztlich war es so, dass man – wenn man wollte – jeden Abend zu den aktuellen Themen der Tageszeitungen zu einer Podiumsdiskussion gehen konnte und mit anderen Menschen, die die Themen ebenfalls beschäftigten, diskutierten konnte. Es ist ein unermesslicher Schatz in einer Gesellschaft leben zu dürfen, die Pluralismus – jedenfalls vom Ideal her geprägt durch die Meinungsfreiheit – schützt. Das interdisziplinäre, hoch qualifizierte und interessierte Umfeld Brüssels wird mir bei meiner Rückkehr nach Deutschland sehr fehlen.
Erste Stufen der Karriereleiter
Für eine Station in der deutschen Botschaft oder in der ständigen Vertretung bewirbt man sich über die Zentrale des Auswärtigen Amts in Berlin. Das Auswärtige Amt ist eine deutsche Behörde und (daher) gibt es einen ganz geregelten Ablauf, wie der Bewerbungsprozess von statten geht. Es ist sehr amüsant mitzubekommen, wie zum Beispiel die Polen oder die Franzosen und vor allem die Belgier „Organisation“ ganz anders handhaben. Man muss sich zuweilen für die Akkuratesse entschuldigen, mit der von deutscher Seite regelmäßig geplant wird.
Bei der Bewerbung muss man mindestens drei Orts-Präferenzen angeben, wobei sich aus der langen Liste der Auslandsvertretungen der Bundesrepublik Deutschland zu entscheiden ist. Eingeschränkt ist diese Wahl freilich durch gewisse Sprachvoraussetzungen, die einzelne Botschaften und Konsulate vorgeben. So ist es in Brüssel Voraussetzung, dass – neben Englisch – Französisch als Fremdsprache beherrscht wird. Diese Voraussetzung ist durchaus sinnvoll: ich habe mindestens die Hälfte meiner Arbeit entweder auf Englisch oder auf Französisch abgeliefert, obwohl die deutsche Botschaft eine deutsche Behörde ist.
Das Auswärtige Amt hat den Bewerbungszeitraum dankenswerter Weise auf die 8 bis 6 Monaten vor dem Beginn der Station beschränkt. Früher war es möglich, sich unbegrenzt weit im Voraus zu bewerben. Es konnte dann durchaus sein, dass man bei einer Bewerbung ein oder zwei Jahre vor Beginn bereits zu spät und der Platz vergeben war. Für die weiteren Formalien und Voraussetzungen verweise ich an dieser Stelle auf die Homepage des Auswärtigen Amtes, die kurz und bündig wieder gibt, was man einzureichen hat. Ich kann jedem Referendar nur raten, sich im Vorfeld genau mit den Regularien des jeweiligen Juristenausbildungsgesetzes auseinanderzusetzen, denn im schlimmsten Fall wird die Station die geleistet wird, nicht anerkannt.
Ich glaube, um das Institutionengefüge und wie Brüssel wirklich funktioniert zu verstehen, muss man mal einige Zeit hier verbracht haben. Kein Organigramm oder Gesetz kann erklären, wie die Abläufe hier von den Menschen ausgestaltet werden. Warum eine Kommission politisch oder unpolitisch sein sollte, was für Probleme es auslöst, wenn im Rat mal wieder mit dem „german vote“ (nämlich Enthaltung) abgestimmt wird und warum das keine Dauerlösung sein kann, sind Fragen, mit denen man hier täglich konfrontiert wird. Es ist kein Abstraktum mehr, wenn man mal einige Zeit hier verbracht hat. Meinungen werden nicht zuletzt durch Gespräche gebildet. Gespräche wiederum leben vom Input der Gesprächsteilnehmer. Sowohl den Input als auch die Gespräche findet man hier in Brüssel.
Von Sammelklagen und Vaterschaftsanerkennungen
Als ich dann am Tag nach meiner Ankunft, um 9:00 Uhr morgens in die Botschaft kam, um meinen Dienst anzutreten, habe ich sofort sehr vielseitige Aufgaben übertragen bekommen. Ich habe mich praktisch direkt ins Geschehen gestürzt. Ich war schwerpunktmäßig mit der Rechtsabteilung befasst, wurde aber auch im Politikreferat miteinbezogen. So habe ich Fragen von der Möglichkeit von Sammelklagen nach belgischem Recht gegen VW über Staatsangehörigkeitsangelegenheiten, Vaterschaftsanerkennungen und Erbschaftssachen bearbeitet. Auch konnte ich an Besuchen im belgischen Außenministerium teilnehmen und Berichte zu den verschiedenen Besuchen, zum Beispiel dem Briefing zum Rat der Innen- und Justizminister, verfassen.
Es war nicht ganz leicht, sich in die große Vielfältigkeit, die Belgien auszeichnet, einzuarbeiten: Es ist allein aufgrund der verschiedenen Amtssprachen, die hier gesprochen werden, ganz anders, als alle anderen Länder, die ich kenne. Die Flamen identifizieren sich als Flamen. Die Wallonen identifizieren sich als Wallonen. Und die deutschsprachige Gemeinschaft, ist die deutschsprachige belgische Gemeinschaft. Es fühlt sich so an, dass nur wenn die roten Teufel spielen – so nennt sich die belgische Fußballnationalmannschaft – Belgier vereint als Belgier auftreten.
Belgien ist ein spannendes Land
Ich habe mich in meiner Zeit hier viel gefragt, was „den Belgier“ ausmacht. Klar, „der Belgier“ macht hervorragende Frites und ist der wohl abwechslungsreichste Biertrinker der Welt (jedenfalls von der Vielfalt der Sorten aus zu schließen). „Der Belgier“ kann ausschließen Franzose, Deutscher oder Niederländer zu sein. Belgien ist damit – so scheint es mir nach vier Monaten – vielleicht die einzige Nation der Welt, die sich durch eine Negativdefinition definiert. Französisch und Flämisch als Amtssprachen machen auch den Staatsapparat ziemlich kompliziert. Deutsch soll noch eine Amtssprache sein, davon habe ich aber nichts gemerkt. Als deutsche Juristin mit erstem Staatsexamen, die ja aus Deutschland schon an eine föderale Struktur gewöhnt ist, ist es für mich bis jetzt schwierig, die einzelnen Zuständigkeiten auf die verschiedenen Ebenen – föderale Ebene, Gemeinschaften, Provinzen – und die dazu gepackten sprachlichen Kompetenzen zuordnen zu können. Das Organigramm in meinem Referendarbüro war für die Arbeit hier ein absolutes Muss.
Und wir in Europa sind ein buntgemischter Haufen
Die Vielseitigkeit, die sich in Belgien widerspiegelt, ist der perfekte Boden für eine „Hauptstadt Europas“. Klar gibt es Konflikte. Die gibt es überall, wo unterschiedliche Menschen ihren Alltag miteinander gestalten und ihre Unterschiedlichkeit gestalten dürfen und keiner Unterdrückung durch staatliche Gewalten unterliegen. Ebenso sieht es mit den Bürgern der verschiedenen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union aus. Wir in Europa sind ein buntgemischter Haufen Menschen, die kulturell ganz unterschiedlich funktionieren. Und trotzdem haben wir eine gemeinsame Geschichte und vor allem – und das ist das Entscheidende – einen gemeinsamen Willen, in einer staatlichen Ordnung, die von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie geprägt ist zu leben. In Europa wird keine Gleichmacherei betrieben und darauf können wir stolz sein. Meine Zeit in Brüssel ist eine einzigartige Erfahrung gewesen, die unheimlich schnell vergangen ist.
Es kommt mir wie gestern vor, dass ich am Gare du Midi ankam und ich habe so wahnsinnig viel in dieser Zeit erlebt, dass auch ein ganzes Jahr mit den Erfahrungen gefüllt werden könnte. Ich möchte jeden ermutigen, ebenfalls einmal eine Zeit hier in Brüssel zu leben.
Fabelhaft, wie engagiert die Juristin ihren Weg nach und durch das europäische Brüssel beschreibt und die unvergleichliche Vielfalt und den tiefen historischen Reichtum Europas betont,der/die nicht von Nationalisten mißbraucht und verkleinert werden darf. Wenn das mit den verschiedenen Sprachen nicht so anspruchsvoll wäre….. Man kann nur möglichst vielen jungen Juristen wünschen, daß sie den “Weg durch die Institutionen” von einer Stage in Brüssel aus starten können.