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Die Europäische Union hat auch Mütter – nicht nur Väter

Simone, quai de la Loire; Paris, le long du canal St Martin, un portrait de Simone Veil en Marianne by Jo Di Bona. Par Jeanne Menjoulet CC BY 2.0 DEED via FlickR

Von Jürgen Klute

Fragt man nach den Personen, die für die Grundsteinlegung der heutigen Europäischen Union (EU) stehen, dann fallen vor allem die Namen Robert Schuman und Jean Monnet. Sie gelten als die Väter der Vorläuferorganisation der heutigen EU, der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), die 1951 auf der Grundlage des Schuman-Plans errichtet wurde.

Der internationale Frauentag, der jährlich am 8. März begangen wird, regt zu der Frage an, ob die EU nur Väter hat oder ob es auch Mütter gibt. Judith Ecker, seit 1994 Mitarbeiterin des Europäischen Parlaments (EP) und dort seit 2018 im Bereich Weiterbildung aktiv, hat sich seit 2020 intensiv mit dieser Frage befasst und nach den frühen weiblichen Abgeordneten und deren Einfluss auf die europäische Integration und die Gesellschaft in ihren Ländern gefragt. Den Anstoß dazu gab ein Gespräch bei einem familiären Abendessen. Als ihr Mann und ihre beiden Söhne, so erzählt Ecker, über die Väter der EU sprachen, habe sie gefragt, ob die EU denn keine Mütter hätte. Darauf hin hätten sie drei Augenpaar erstaunt angeschaut. Sie selbst habe aber auch nur wenige Namen nennen können.

Dieses abendliche Familiengespräch habe sie nicht losgelassen. Sie habe dann angefangen, nach den Müttern des Europäischen Parlaments zu suchen. Heute ist Ecker eine ausgewiesene Expertin in dieser Frage und gibt ihr Wissen im Rahmen ihrer Bildungsarbeit des EP weiter.

Ecker hat bis zur Gründung der EGKS zurückgeschaut. Ab 1952 wurde deren Arbeit durch eine parlamentarische Versammlung begleitet, die von entsandten Abgeordneten der Parlamente der sechs Gründungsmitglieder gebildet wurde. In der ersten Versammlung mit insgesamt 78 Mitgliedern gab es nur eine Frau: Marga Klompé (1912-1986) aus den Niederlanden. Sie war promovierte Chemikerin, was aus Sicht von Ecker immerhin gut zu Kohle und Stahl passte. Später wurde Klompé die erste Ministerin in den Niederlanden. Ecker ergänzt, dass Klompé Christdemokratin war, eine deutsche Mutter hatte und während des Zweiten Weltkriegs im Widerstand war. Ihr Motiv – wie das vieler anderer – für ihr europäisches Engagement war, nach dem Krieg eine Aussöhnung zwischen den europäischen Völkern zu erreichen und zukünftig Kriege zu verhindern.

Die erste belgische Abgeordnete des EP war Marguerite De Riemaecker-Legot (1913-1977 – einen Überblick über ihr Leben gibt es hier). Sie gehörte von 1958-1961 der parlamentarischen Versammlung an und sie war zugleich eine der ersten Frauen im belgischen Parlament (erstmals gewählt 1947 – Frauen hatten damals zwar noch kein aktives, aber schon ein passives Wahlrecht in Belgien). 1953 wurde sie als erste Frau „Sécretaire de la Chambre“ und 1965 als erste Frau in ein Ministeramt in Belgien berufen. Bedauerlicherweise, so Eckert, ist Marguerite De Riemaecker-Legot sowohl auf europäischer als auch auf belgischer Ebene heute fast völlig in Vergessenheit geraten: Es gibt in ganz Belgien keine einzige Straße, die nach ihr benannt ist, auch keine Biografie.

Dass es damals nicht mehr Frauen in der parlamentarischen Versammlung gab, erklärt Ecker damit, dass Frankreich (1944), Italien (1946) und Belgien (1948) erst erst wenige Jahre zuvor das Frauenwahlrecht eingeführt hatten und daher zum Gründungszeitpunkt der EKGS nur wenige Frauen in den dortigen Parlamenten vertreten waren. In Luxemburg hatten Frauen zwar schon seit 1919 das Wahlrecht, doch in der Zeit von 1931 bis 1965 gab es keine Frauen im Luxemburger Parlament. Deutschland war, wie Ecker erinnert, mit dem Wiederaufbau beschäftigt, dem des Landes und dem der Demokratie. Und schließlich, so Ecker weiter, durften Frauen nicht in Kohlebergwerken arbeiten, und Stahlwerke waren auch keine typischen Frauenarbeitsplätze.

Diese Umstände führten dazu, dass es von 1952 bis zur ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments 1979 unter den insgesamt 734 Abgeordneten in den parlamentarischen Versammlungen während dieser gesamten Periode insgesamt nur 31 Frauen gab. Die waren, so Ecker, über alle Fraktionen verteilt. Neben der schon genannten niederländischen Christdemokratin Klompé gab es etwa die deutsche Sozialdemokratin Käte Strobel (1907-1996) die Liberale Colette Flesch (*1937) aus Luxembourg und die italienische Kommunistin Nilde Iotti (1920-1999).

Das Europäische Parlament begann 1979 unmittelbar nach seiner ersten Direktwahl einen Schwerpunkt auf Gleichstellungspolitik zu legen. Auf Vorschlag der französischen Sozialistin Yvette Roudy (*1929) richtete das Parlament einen Frauenschuss ein. Zunächst war er als ad-hoc-Ausschuss – also als zeitlich befristeter – Ausschuss gedacht. Doch nach der Europawahl 1984 wurde er zu einem permanenten Ausschuss, der bis heute existiert. Simone Veil (1927-2017) schlug vor, dass der Ausschuss nicht auf die zulässige Zahl von Ausschussmitgliedschaften der MdEP angerechnet wird. So wollte sie vermeiden, dass Frauen sich entscheiden müssen, entweder Gleichstellungspolitik zu machen – oder alle anderen Politiken. Der Ausschuss ist “neutralisiert” und das heisst, dass die Mitglieder beides machen können. Das ist im Laufe der Jahre durchaus gelungen und wirkt bis in die EU-Institutionen hinein, in deren Verwaltungen heute mehr Frauen als Männer arbeiten. Nach Ecker könnte dazu aber auch beigetragen haben, dass Frauen oft mehr Fremdsprachen lernen als Männer und die Institutionen große Sprachendienste haben, Übersetzung und Verdolmetschung sind Berufsfelder, die mehr Frauen als Männer anziehen.

Darüber hinaus ist grundsätzlich eine der Vizepräsidentinnen des Europäischen Parlaments für Gleichstellungsfragen zuständig.

1998 begann die EU, systematisch ihre Gebäude in Straßburg, Luxembourg und Brüssel nach wichtigen Europapolitikerinnen und -politikern zu benennen. Über die Namensvergabe entscheidet die Konferenz der Präsidenten, in der die Vorsitzenden der Fraktionen vertreten sind. Auf der ersten Liste, die den Vorsitzenden zur Namensauswahl vorgelegt wurde, waren nur Männernamen verzeichnet. Damals war Claudia Roth Co-Vorsitzende der grünen Fraktion im EP. Sie hat dann in der entsprechenden Sitzung eine alternative Liste mit Frauennamen vorgelegt. Roth bekam dabei, so Ecker, Unterstützung von der britischen Vorsitzenden der sozialistischen Fraktion, Pauline Green (*1948). Und tatsächlich konnten sich die beiden Präsidentinnen durchsetzen mit ihrem Anliegen, Gebäude auch nach bedeutenden Europapolitikerinnen zu benennen. Roth hatte auf ihrer Liste auch Simone Veil, die erste EP-Präsidentin nach der Direktwahl, Holocaust-Überlebende und eine der herausragendsten Persönlichkeiten der europäischen Aussöhnung. Allerdings lebte Veil damals noch, und man hatte sich in der Konferenz der Präsidenten darauf verständigt, EU-Gebäude nur nach verstorbenen Persönlichkeiten zu benennen. Daher wurde das Gebäude nicht nach Veil, sondern nach der französischen Politikerin, MdEP, Schriftstellerin, Journalistin und Feministin Louise Weiss (1893-1983) benannt. Später wurde ein Teil des Platzes zwischen den beiden Gebäuden des Europäischen Parlaments in Brüssel nach Veil benannt: die Agora Simone Veil im Zentrum der Esplanade Solidarność. Und in Straßburg ist heute das Parlamentarium nach Simone Veil benannt, sowie ein kürzlich hinzugekommenes Bürogebäude.

Insgesamt lässt sich also sagen, dass das Europäische Parlament eine Vorreiterrolle in der Gleichstellungspolitik einnimmt – auch wenn das Ziel einer vollständigen Gleichstellung noch ein Stück mehr Arbeit und Zeit erfordert. Lag der Anteil weiblicher MdEP bei der ersten Direktwahl des EP 1979 noch bei nur 16,3 Prozent stieg der Anteil der Frauen bis zur Europawahl 2019 kontinuierlich bis auf 39,5 Prozent. Bei der Europawahl 2024 ging er erstmals um etwas einen Prozentpunkt zurück auf 38,75 Prozent. Das könnte eine Folge der größeren Zahl von MdEP von rechten Parteien sein, die 2024 ins EP gewählt wurden.

Als einzige Fraktion im EU-Parlament sind derzeit die Grünen/EFA paritätisch besetzt – mit 50,9 Prozent weiblichen Abgeordneten in ihren Reihen. Die Linksfraktion The Left und die liberale Renew folgen mit rund 45 Prozent. In der rechtsextremen Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformisten ist nur etwa ein Fünftel der Abgeordneten weiblich – der niedrigste Wert aller Fraktionen.

Auch wenn es noch einigen Verbesserungsspielraum für die EU gibt, steht sie damit weitaus besser da als die meisten EU-Mitgliedsstaaten. Nicht nur im EP ist der Frauenanteil höher als in den meisten Parlamenten der Mitgliedsstaaten. Heute stehen Frauen an der Spitze von drei der wichtigsten EU-Institutionen: Roberta Metsola als Präsidentin des Europäischen Parlaments, Ursula von der Leyen als Präsidentin der Europäischen Kommission und Christine Lagarde als Präsidentin der Europäischen Zentralbank. Nur der Rat der Europäischen Union, die Vertretung der Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten, hinkt den Entwicklungen hinterher – ganz wie die Parlamente der meisten Mitgliedsstaaten.

Hinweis: Dieser Beitrag basiert auf einem Podcast, an dessen Produktion der Autor dieses Artikels beteiligt war. Der Podcast ist hier nachhörbar.

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