Von Jürgen Klute und Dany Neudt
Am 30. Januar 2025 verstarb Andrée Dumon im Alter von 102 Jahren im belgischen Nivelles. Vielen Leserinnen und Lesern des Belgieninfos dürfte Andrée Dumon kaum bekannt sein. Lange war sie auch in Belgien nur Insidern bekannt: Experten, die sich mit dem belgischen Widerstand gegen die deutsche Besatzung während des 2. Weltkrieges auskennen. Unter den rund 15000 belgischen Männern und Frauen, die sich dem belgischen Widerstand anschlossen, war sie eine der herausragenden Persönlichkeiten.
In einem ausführlichen Nachruf hat der belgische Historiker und Mitbegründer der VzW „Helden van het Verzet“ Dany Neudt das Leben von Andrée Dumon, deren Kodename während ihrer Zeit bei der Resistance „Nadine“ lautete, gewürdigt. Erschienen ist der Nachruf auf der Webseite von „Helden van het Verzet“ (eine deutschsprachig Version des vollständigen Nachrufs gibt es hier). “Helden van het Verzet” wurde 2023 gegründet und widmet sich der Erinnerung an die Männer und Frauen des belgischen Widerstands gegen die deutsche Besetzung von 1940 bis 1944.
Geboren wurde Dumon 1922 in Brüssel. Einen Teil ihrer Kindheit hat sie in Belgisch-Kongo verbracht, wo ihr Vater einige Jahre als Kolonialarzt tätig war. Zurück in Brüssel besuchte sie das Königliche Athenäum von Uccle. In der Zwischenkriegszeit war dieses liberale Athenäum eine Keimzelle für spätere Widerstandskämpfer. Auch Youra Livschitz, Robert Maistriau und Jean Franklemon – die Initiatoren der beispiellosen Befreiungsaktion von über 200 jüdischen Gefangenen des XX. Deportationszuges von der Dossin-Kaserne in Mechelen zum Vernichtungslager Auschwitz am 19. April 1943 – lernten sich dort kennen. Unter den Überlebenden war der damals zehnjährige Simon Gronowski, der heute in Brüssel lebt.
Bereits als Schülerin empörte Dumon sich über die Neutralität Belgiens angesichts der Annektierung Österreichs und des Sudetenlands durch Nazideutschland. Kurz nach Beginn des 2. Weltkrieges drängte ihr Vater Eugène sie, sich der Widerstandsgruppe Widerstandsgruppe Comète anzuschließen, einem Nachrichten- und Aktionsdienst, der sich auf die Flucht alliierter „Flieger“ spezialisiert hatte. Diese Gruppe wurde von einer anderen legendären Brüsseler Widerstandsfrau mitbegründet: Andrée De Jongh, alias Dédée, aus Schaarbeek.
Wie Dany Neudt schreibt, verlief die riskante Fluchtroute von Brüssel über Paris und ging dann zu Fuß weiter über die Pyrenäen bis in baskische San Sebastián. Von dort wurden die Geretteten weiter in die britische Kronkolonie Gibraltar oder ins neutrale Lissabon geschleust. Von dort aus flogen die Piloten nach Großbritannien.
Laut Neudt konnten zwischen 1942 und 1945 über 800 Piloten und 300 Soldaten über die Comète-Fluchtroute den deutschen Besatzern entkommen.
Wie riskant die Flucht sein konnte, beschreibt Neudt an einem exemplarischen Fall:
Eines Tages steigt Andrée mit zwei britischen und einem australischen Piloten in einen überfüllten Zug. Wie die Piloten hat sie gefälschte Ausweise in ihrer Tasche. Da Andrée nur wenige Worte Englisch spricht, ist die Verständigung schwierig. Plötzlich treten einige französische Zollbeamte auf, um eine Kontrolle durchzuführen. Einer der Piloten gerät in Panik und zeigt dem verblüfften Zöllner statt seines Zugtickets eine Schachtel Streichhölzer. Schnell greift Andrée ein und nimmt dem Piloten das Zugticket aus der Brusttasche.
Der Zöllner fragt, was los sei. Andrée erfindet spontan eine Ausrede und behauptet, der Mann sei stumm. Die beiden anderen Piloten zeigen schweigend ihre Zugfahrkarten. Daraufhin fragt der Zollbeamte, ob sie auch taubstumm seien. Nervös antwortet Andrée, dass es sich um zwei Flamen handelt, die kein Wort Französisch sprechen. Wie durch ein Wunder beläßt es der Zöllner dabei.
Aber die Gefahr ist noch nicht vorbei. Ein neugieriger Mitreisender bemerkt, dass ihre Mitreisenden seltsame Gestalten sind. Andrée reagiert sofort: Sie gibt den drei Piloten ein Zeichen zum Aufstehen. Gemeinsam gehen sie zum letzten Waggon und setzen sich erneut hin. Der Rest der Zugfahrt nach Paris verläuft glücklicherweise ohne weitere Zwischenfälle.
Am 11. August 1942 endete das Engagement von Andrée Dumon. Aufgrund eines Verrats wurde sie von deutschen Feldpolizei verhafte ebenso wir auch ihr Vater. Trotz Folter gab Dumon keine Informationen an die Nazis weiter. Das brachte ihr den gefürchteten “Nacht und Nebel-Status” ein. Gefangene mit diesem Status wurden durch unzählige Gefängnisse und Lager geschleppt, um ihre Spuren zu verwischen.
Nach einem missglückten Fluchtversuch kam sie in das Frauen-KZ Ravensbrück und später nach Mauthausen. Erst am 1. Mai 1945 endete dieser Leidensweg: An diesem Tag kam sie zurück nach Brüssel. Nach einer rund zweijährigen Genesungsphase begann sie eine neues Leben. Sie heirate Gustave Antoine, baute mit ihm ein Textilunternehmen auf und hatte mit ihm zwei Kinder.
In der Öffentlichkeit hat sie über ihre Rolle in Comète sehr lange geschwiegen. Gleichwohl hat sie den Kontakt zu geretteten Piloten gehalten. Zudem hat sie sich für die Anerkennung der Frauen im Widerstand eingesetzt und auch dafür, dass Frauen seit den 1970er Jahren der belgischen Armee angehören können. Erst mit über 70 Jahren, so schreibt Dany Neudt, hat Dumon angefangen, in der Öffentlichkeit über ihre Tätigkeit in der belgischen Resistance und bei der Gruppe Comète zu sprechen.
Es wäre zu wünschen, dass in der deutschen Erinnerungskultur an den Widerstand gegen den Nationalsozialismus auch Menschen wie Andrée ‚Nadine‘ Dumon Raum finden und Würdigung für ihren entbehrungsreichen Kampf gegen Diktatur und Unrecht erfahren.
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