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Ein Blick aus Flandern auf „die Deutschen“

 

Von Reinhard Boest

Jan Leyers bij de Duitsers“, so heißt eine sechsteilige Dokumentation, die der bekannte Fernsehjournalist für den flämischen Sender VRT gemacht hat und die im September und Oktober 2024 auf VRT CANVAS zu sehen war. Leyers, der sich in den 80er Jahren auch einen Namen als Musiker und Songwriter mit der Band „Soulsisters“ gemacht hat, nähert sich darin dem Nachbarland unter sechs verschiedenen Blickwinkeln. Er lässt „normale“ Deutsche mit ihrer Sicht auf das zu Wort kommen, was gemeinhin mit „deutsch“ in Verbindung gebracht wird, vom Organisationstalent über „Made in Germany“, „Ost und West“ 35 Jahre nach dem Mauerfall bis zu Natur und Energiewende.

Am vergangenen Donnerstag hatte der deutsche Botschafter Martin Kotthaus in seine Residenz eingeladen, um Jan Leyers und diese Serie vorzustellen. Er stellte bemerkte  – sicherlich nicht zu Unrecht – in seiner Begrüßung, dass nicht nur die Flamen und Wallonen, sondern auch die vielen Expats fernsehmäßig weitgehend in ihren Blasen lebten. Darum sei es doch schade, dass man gar nicht mitbekomme, wenn es außerhalb der Blase etwas gebe, was einen interessieren sollte – wie die Serie von Jan Leyers, die einen Eindruck davon geben könne, wie „die Deutschen“ von außen wahrgenommen werden.

Trotz eisiger Wetterbedingungen war die Residenz (Kotthaus: „zum ersten Mal ein Kinosaal“) voll besetzt, und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erlebten einen kurzweiligen Abend. Leyers erzählte im Gespräch mit dem Chefreporter der „Börsenzeitung“, Detlef Fechtner, launig von sich und vom „Making of“ der Serie. Dazwischen gab es Auszüge aus vier der sechs – im „Original“ jeweils 45 Minuten langen – Episoden zu sehen.

Auf ausdrücklichen Wunsch des Botschafters musste Leyers zunächst berichten, warum er so gut Deutsch spricht: seine Affinität begann im Alter von 11 Jahren, als er mit seinen Eltern und seinem jüngeren Bruder erstmals nach Deutschland kam, um die Schlösser und Burgen am Rhein zu entdecken. Auf ihn machte aber vor allem ein Kinoplakat in Koblenz Eindruck: „Nackt unter Leder“, ein Film mit Marianne Faithfull von 1969. Die nächste Begegnung war sein Philosophiestudium, als er alle Klassiker lesen musste: Hegel, Kant, Nietzsche – natürlich auf Deutsch. Danach merkte er, dass er vielleicht auch mal die Alltagssprache lernen sollte. Dass ihm das gelungen ist, davon konnte sich an diesem Abend jeder überzeugen.

Im Auszug aus der ersten Folge („Schaffen die das noch“?) ging es um das legendäre deutsche Organisationstalent – am Beispiel der Flutkatastrophe im Ahrtal im Juli 2021. Betroffene schilderten ihre Erfahrungen und Enttäuschungen über das Versagen der Verantwortlichen bis hin zum Landrat, dem es “vor allem darum gegangen sei, seinen Porsche zu retten”.

Ob „Made in Germany“ noch ein Qualitätsmerkmal ist, wurde in Gesprächen am Rand des Mercedes-Treffens „Schöne Sterne“ in Hattingen im Ruhrgebiet erörtert. Nur ein enthusiastischer Zeitgenosse, der mit seinem Mercedes extra aus Malaysia angereist war, schwor auf die deutsche Edelmarke. Die deutschen Interviewpartner waren dagegen überzeugt, dass Mercedes seine große Zeit hinter sich habe. Früher habe gegolten „machen, was möglich ist“, heute „machen, was nötig ist“ – minimaler Aufwand, maximaler Ertrag. In Deutschland werde nur noch zusammengeschraubt.

Zum Thema Natur (an der die Deutschen doch so hingen) hat Leyers ein Ehepaar getroffen, das wegen des Braunkohleabbaus im Rheinischen Revier sein Haus verlassen musste. Begleitet von Bildern des riesigen Baggers und der von ihm hinterlassenen Mondlandschaft beklagte es verbittert, dass die Politik nur noch von Konzerninteressen bestimmt werde. Leyers äußerte ein gewisses Unverständnis, dass man in Deutschland Atomenergie durch die besonders umweltschädliche Kohleenergie ersetze (wobei man bekanntlich in Belgien mit Atomenergie seine eigenen Erfahrungen macht).

Eher skuril mutete der letzte Ausschnitt an, in dem Leyers in Eisenach ein ostdeutsches Nostalgietreffen besucht. Die Teilnehmer, viele mit Trabant und Wartburg angereist, manche in NVA- oder Vopo-Uniformen, sind erkennbar „Hardcore-Ossis“. Dementsprechend gab es unisono Klagen über eine anhaltende Benachteiligung der Ostdeutschen und Plünderung der DDR durch Westdeutsche – was sicherlich kein repräsentatives Bild „der Ostdeutschen“ zeichnet.

Über die Herangehensweise bei seinen Reportagen sagte Leyers, dass es natürlich einen Plan gebe, aber es am Ende vor allem darauf ankomme, wie sich die Sache entwickle. Deutlich wird, dass Leyers die Menschen nicht mit (vielleicht sogar vorformulierten) Fragen bedrängt, sondern sie einfach reden lässt. Man dürfe auch „die Stille nicht fürchten“. In den meisten Fällen seien die Leute von sich aus bereit gewesen, mit ihm und seinem Team zu sprechen. Sein Erfolgsrezept: „Wir sind Belgier, wir wollen nicht stören.“

Als Fazit aus den überwiegend kritischen und pessimistischen Beiträgen „aus dem Volk“ sieht Leyers ein tief verunsichertes Deutschland in der Krise. Und ein auch 35 Jahre nach dem Mauerfall noch immer gespaltenes Land. Als wichtigstes Land in Europa könnten sein Zustand und die künftige Entwicklung die Nachbarn nicht gleichgültig lassen. Gegen die negativen Gefühle – die es natürlich auch in anderen Ländern gibt – komme man nur mit „Verführen im positiven Sinne“ an, denn bekanntlich gelange man mit Fakten bei diesen Menschen meistens nicht weiter. Eine Herkulesaufgabe, zumal derzeit wohl keiner sagen kann, worauf sich eine positive Verführung stützen sollte: Neugier, Hoffnung, Realismus?

Auf die Frage aus dem Publikum, warum die Serie nicht im deutschen Fernsehen laufe, antwortete Leyers: „Das frage ich mich auch.“

Auch wenn die – zum Teil sicher angreifbaren – Aussagen der Gesprächspartner unkommentiert stehenbleiben, geben die Reportagen einen Eindruck von der Stimmung in manchen Teilen der Bevölkerung. Ob damit den Zuschauern – in Flandern und anderswo – allerdings ein zuverlässiges und vollständiges Bild davon gegeben wird, wie es Deutschland und „den Deutschen“ geht?

Die Serie – auch die beiden Episoden, die nicht gezeigt wurden (über den Umgang mit der Geschichte und die Migration) – ist in der Mediathek des VRT abrufbar. Da die Interviews auf Deutsch geführt wurden, sind die Reportagen auch für Nicht-Niederländischsprachige leicht zu verstehen.

Episode 1: Schaffen die das noch?

Episode 2: Duitse demonen (Deutsche Dämonen)

Episode 3: Made in Germany

Episode 4: Onvrede in het oosten (Unfriede im Osten)

Episode 5: Lokroep van de natuur (Lockruf der Natur)

Episode 6: Heimat 2.0

https://www.vrt.be/vrtmax/a-z/jan-leyers-bij-de-duitsers/

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