Von Margaretha Mazura.
Bücher mit Vorschusslorbeeren, auch wenn diese “Deutscher Buchpreis” heissen, sind mir suspekt. Bücher, die in einer Stadt handeln, die ich glaube gut zu kennen, noch mehr. Ich ging also mit einem Gefühl an den Roman heran, das nur als Vorurteil zu bezeichnen ist. Und Vorurteile sind nunmal negativ.
Ich begann also zu lesen und was ich las, war “gripping”, also spannend, packend. Das englische Wort ist ein wenig Hommage an den Roman, der sich traut, auch Fremdsprachen, ganz im europäischen Gedanken, miteinzubeziehen (nur hätten dabei ein paar Frendsprachenlektoren ebenfalls miteinbezogen werden sollen: eklatante Fehler wie “personell” für Personal ist, egal ob Englisch oder Französisch, falsch). Die Euphorie hielt 384 Seiten lang an. Doch der Reihe nach.
Die Euphorie hielt 384 Seiten lang an.
Die erste Überraschung: die Krimi-Sequenz. Die am Anfang für zusätzliche Geschwindigkeit und Interesse sorgt, jedoch dann in Pseudo-Verschwörungstheorien versandet und nur die Krimi-Hauptperson mit seinen Problemen und Problemchen weiter skizziert. Und da sind wir bei der Stärke des Romans: Die Durchzeichnung der vielen verschiedenen Charaktere, die sich durch unglaubliche Zufälle, die aber eine Zeit lang durchaus glaubwürdig erscheinen, irgendwie kreuzen. Durch diese Personen, ihre Malerei, denn sie sind doch recht farbig, zeigt sich auch, dass der Roman von keinem jungen Menschen geschrieben worden sein kann: Denn Probleme, Schwierigkeiten, Ansichten, das alles sind die von erfahrenen bis alten Menschen. Besonders erschreckend, jedoch symptomatisch, wenn auch karikiert, die Altersheim-Schwester, die auch in Wien ihre Arbeit verrichtet haben hätte können.
Und das Schwein. Oder die Schweine. Sie ziehen sich als roter Faden durch das Buch, oder besser, sie rennen, werden diskutiert und sorgen für alle möglichen Zwischenfälle, vor allem auf nationaler und EU Ebene. Sie sind quasi der Aufhänger für EU Kritik und Absurditäten. Und da komme ich zu einer anderen Stärke des Romans: Die europäische Kommission, wie Menasse sie darstellt, ist höchst realistisch beschrieben. Die Kommission von vor 20 Jahren – und Menasse ist sehr akkurat, wenn er Delors als letzten, wahren Präsidenten bezeichnet – ist nicht dieselbe von heute. Die Unterwanderung dieser Institution durch B-Beamte der sogenannten neuen Mitgliedsstaaten führte zu einer Verbürokratisierung, die selbst von Kommissionsbeamten deploriert wird. Wenn sich jetzt ein paar engagierte “Eurokraten” beleidigt fühlen, dann nur, weil sie die Kritik persönlich nehmen. Objektiv betrachtet, kommt die Kommission bei Menasse gut weg. Er hätte noch radikaler sein können.
Was ich mich etwa zur Hälfte des Romans fragte war: Worauf will Menasse hinaus? Und konnte es zur Halbzeit noch nicht beantworten. Das Thema, das für Menasse sicheres Terrain ist, wurde da bereits erwähnt: Auschwitz und der Umgang mit der Vergangenheit. Und dann hatte er offenbar eine von Musil induzierte Brainwave und schlug die “Jubilee”- Aktion vor, deren Pate eindeutig die Parallelaktion im “Mann ohne Eigenschaften” war. Gekonnt war die Auflösung der grandiosen Idee in eine schwachsinnige. Und die darin verflochtenen EU-institutionsinternen Intrigen. Robert Menasse schreibt hier bellestristische Literatur mit perfekt recherchiertem Hintergrund. Es ist zeitgeistig, intelligent, die EU-Bürokratie-Sequenzen haben für alle in der “Brussels Cloud” einen starken déjà-vue Effekt. Und, oberflächlich gesehen, ist es auch noch unterhaltsam. (Darunter allerdings ist es nachdenklich bis deprimierend).
Aber irgendwo auf Seite 385 hätte er aufhören sollen. Denn ab da wird es absurd und hanebüchen. Der ehrenvolle Professor, der das Territorium von Auschwitz als Platz für eine neue, aus dem Boden gestampfte, europäische Hauptstadt à la Brasilia vorschlug, sah darin nicht den inherenten, zynischen Ausch-Witz (man möge mir dieses Wortspiel verzeihen). Aber diese Hauptstadt-Idee gab offenbar dem Buch den Titel.
Das verwirrende Menschengstöber im Roman scheint auch von Musil inspiriert, nur löste jener die Zusammenhänge über mehr als 1000 Seiten auf, was Menasse in den 458 Seiten der Hauptstadt nicht überzeugend gelingt.
Die ominöse Ermordung des letzten Überlebenden von Auschwitz in Brüssel durch die IS Attentatsbombe in der U-Bahn-Station Maelbek hat einen bitteren Beigeschmack, da das Role Model dieser Figur (oder zumindest eines davon) immer noch lebt und mit einem Nazi-Zeitgenossen das “Nie wieder” als Zeitzeugen erzählt und in die Tat umsetzt (siehe Rudolf Wagners Artikel „Der Zug fährt zu schnell“). Dass der ungesund lebende Kriminalkommissar einen Vorgesetzten namens Maigret hat ist auch ein bisserl “patschert” und sei nur am Rande erwähnt.
Interessant ist auch Menasses Verhältnis zur Mobilität: Transportmittel sind für ihn tödliche Fallen. Abgesehen von den Todeszügen von Brüssel nach Auschwitz, sterben im Roman 2 Hauptfiguren in Zug (auf dem Weg nach Warschau) und Metro (siehe oben). Und auch die Ausstellung der vergessenen Kunst kommt aufs „Abstellgleis“. Ein bisschen viele, schienenbezogene Unglücksfälle.
Und die Moral von der Geschicht‘?
Menasse ist kein Moralprediger, zumindest nicht in diesem Buch. Er lenkt den Leser mit Akribie zu den aktuellen Fragen des erstarkenden Nationalismus, der Kritik an der EU, aber immer mit der klaren Aussage: Dass wir so lange in Frieden leben konnten, verdanken wir der visionären Idee von ein paar Männern, deren Namen dem Mann oder der Frau auf der Strasse unbekannt sind, wie Hallstein oder Monnet. Aber bei aller Kritik ist das Buch ein klares Bekenntnis zur EU als einzig mögliches Vehikel für Europa, verpackt in Romanform. Ein zeitgeistiges und darum lesenswertes Buch.
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