Von Marion Schmitz-Reiners.
Alle, die sich am 14. November zur diesjährigen Feierstunde anlässlich des deutschen Volkstrauertags auf dem Soldatenfriedhof Lommel in der belgischen Provinz Limburg eingefunden hatten, standen unter Schock. In der Nacht zuvor hatten in Paris fürchterliche Anschläge stattgefunden, für die inzwischen der IS-Terror die Verantwortung übernahm. So erhielt das Gedenken an die Toten des Zweiten Weltkriegs und an Gewaltopfer in der ganzen Welt und zu allen Zeiten in diesem Jahr eine bedrückende Aktualität.
Alljährlich lädt der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge am Volkstrauertag zu einer Feierstunde auf dem deutschen Soldatenfriedhof Lommel ein, auf dem 40.000 meist junge Gefallene des Zweiten Weltkriegs bestattet sind. Diesmal schoben sich die Toten von Paris vor die unendlichen Gräberreihen mit ihren schlichten, grauen Steinkreuzen.
„Ich konnte meine Predigt heute Nacht nicht zu Ende schreiben“, so sagte erschüttert Pfarrer Wolfgang Severin von der katholischen Brüsseler Sankt-Paulus-Gemeinde zu Beginn des ökumenischen Gottesdienstes, der alljährlich die Feierstunde einleitet. Stattdessen stellte er sie spontan unter das Paulus-Zitat „Vergeltet niemand Böses mit Bösem.“ Ein zweitausend Jahre altes Postulat, das Menschen auch in Zeiten schwerer Konflikte äußerste Selbstbeherrschung abfordert. Umso inbrünstiger sangen die Gottesdienstbesucher in der Friedhofskapelle das „Gib Frieden Herr, gib Frieden…“
Pfarrer Dr. Thorsten Jacobi von der Deutschsprachigen Evangelischen Gemeinde Provinz Antwerpen dagegen hält auf dem 16 Hektar großen Gräberfeld die Rede, die er vor den Anschlägen vorbereitet hat. Er hat sie unter die Kernthese der Friedensdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland aus dem Jahr 2007 gestellt: „Wer Frieden will, der muss Frieden vorbereiten.” Aber noch in der Nacht hat er eine neue Einleitung geschrieben: „Wir sind bestürzt über die jüngsten Ereignisse und die Zahl der Opfer, erzürnt über die Täter und ihre mutmaßlichen Motive. Zu einer wehrhaften Gesellschaft aber gehört es, dass sie sich gerade dann zu ihren Überzeugungen bekennt, wenn diese auf übelste Art und Weise angegriffen werden.“
„Wir sind es den Opfern schuldig, in Europa zusammenzustehen“
Vier deutsche und belgische Schülerinnen gehen auf die Flüchtlingskrise ein. Vor dem Mikrofon schlüpfen sie in die Haut junger Menschen aus Deutschland, Belgien und England. „Wir leben in schönen Häusern, haben intakte Familien, gehen gerne aus. Wir sind glücklich.“ Und dann, im Jahr 2020: In Westeuropa herrscht ein Diktator. Er bombardiert ihre Städte und Dörfer und will, dass sie für ihn kämpfen. Ihre Familien beschließen, nach Syrien zu fliehen, einem Land, „in dem wir willkommen und die Menschen freundlich sind“. Eines der Mädchen hat gerade „in einem Eisenbahnwaggon voll Kompost die bulgarisch-serbische Grenze überquert.“ Ein anderes hat unterwegs seine Eltern verloren. „Aber nun sind wir in der Türkei, das Ziel ist ganz nah.“
Die Gedenkrede hält der ostbelgische Historiker Dr. Herbert Ruland von der Autonomen Hochschule der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Eupen. Sein Thema lautet „Grenzgebiete“. Die Geschichte von „Eupen-Malmedy“ sei ein warnendes Beispiel dafür, was Grenzen im Leben von Menschen anrichten können: „Eine alte Nachbarin von mir hat sechs Mal in ihrem Leben ihre Staatsangehörigkeit wechseln müssen.“ Dann geht er auf die Begeisterung ein, die Hitler von vielen Einwohnern des heutigen Gebiets der DG entgegenschlug. Auch sein Vortrag ist eine eindringliche Warnung gegen jede Art von Diktatur.
Der deutsche Botschafter Rüdiger Lüdeking spricht schließlich die Worte des Totengedenkens, die am Volkstrauertag in der ganzen Welt gesprochen werden: „Wir denken heute an die Opfer von Gewalt und Krieg, an Kinder, Frauen und Männer aller Völker…“ Anschließend weicht er vom Protokoll ab und findet eigene Worte: „Der heutige Tag ist ein Tag der Trauer und der Mahnung. Er verpflichtet uns, alles zu unternehmen, um für unsere Völker den Frieden zu bewahren. Unsere Gedanken sind bei den Toten von Paris. Wir sind es den Opfern schuldig, in Europa zusammenzustehen, unsere Werte Demokratie, Freiheit und Menschenrechte zu schützen und allen totalitären Tendenzen zu wehren.“
Der Botschafter ruft zu einer Schweigeminute auf. Es fängt an, zu regnen. Belgische und deutsche Soldaten legen Kränze ehemaliger Kriegsgegner auf weiße Gestelle. Die Gräber verschwimmen im Grau eines kalten Herbsttages, der als tragische Zäsur in die Geschichte Europas und der Welt eingehen wird.
• Auf dem Soldatenfriedhof Lommel ruhen Gefallene, die im zweiten Weltkrieg vom amerikanischen Gräberdienst provisorisch auf fünf Soldatenfriedhöfen in der Region bestattet worden waren. 1946/47 wurden sie nach Lommel umgebettet. 1946 übergab der amerikanische Gräberdienst den Friedhof den belgischen Behörden, die auch Gefallene aus anderen belgischen Landesteilen nach Lommel überführten. Seit 1952 pflegt der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge den Friedhof. Seit 1993 gibt es dort eine Internationale Jugendbegegnungsstätte, in der Jugendliche aus ganze Europa über die Vergangenheit lernen können.
• Lommel ist der größte deutsche Soldatenfriedhof des Zweiten Weltkriegs im westeuropäischen Ausland.
• Der Volkstrauertag wird seit 1952 zwei Sonntage vor dem ersten Adventssonntag begangen und erinnert an die Kriegstoten und Opfer der Gewaltherrschaft aller Nationen.
• In diesem Jahr fiel die Gedenkfeier in Belgien ausnahmsweise auf einen Samstag (den 14. November), weil am 15. November der belgische „Tag der Dynastie“ gefeiert wurde.
• Info: http://www.volksbund.de/kriegsgraeberstaette/lommel.html
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