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Emo-Journalismus, der „Fall B.“ und die Folgen

Manche Journalisten schrecken immer weniger davor zurück, munter vom Facebook abzuschreiben, ohne die Fakten zu überprüfen. Die Artikel laufen unter „Vermischtes“ und sind meistens schnell vergessen. Tragische Folgen aber hat der Fall eines Antwerpener Straßenbewohners, der in den letzten Tagen über den Umweg Facebook in die Presse geriet. Ein Lehrstück in schlechtem Journalismus und der mutwilligen Zerstörung des Rufes eines Unschuldigen.

Ende vergangener Woche wurden zwei junge Mädchen auf dem Antwerpener Rooseveltplaats von dem jungen Bettler B. angesprochen, der sie um einen Euro bat. Die beiden Schülerinnen kamen mit ihm ins Gespräch, waren tief gerührt von seiner Geschichte und beschlossen, für ihn Geld einzusammeln. Sie gründeten unverzüglich eine Facebookgruppe mit dem Titel „Project B…“ (wir schreiben den Namen nicht aus; warum, das erfahren Sie gleich), die in zwei Tagen 4000 Mal „geliked“ wurde. Und genauso viel Euro landeten in kürzester Zeit auf das Spendenkonto zugunsten B.s.

Ganz oben auf der Facebookseite stand ein „Selfie“, das die beiden hübschen Schülerinnen von sich selber und dem Straßenbewohner B. geschossen hatten.

Die Presse stieß auf die Facebookseite und stürzte sich auf die rührende Geschichte. Einen Tag später erschienen begeisterte Artikel einschließlich des „Selfies“ in großer Aufmachung in zahlreichen flämischen und französischsprachigen Zeitungen. Und auch Radio- und Fernsehsender brachten Reportagen über die Aktion der beiden Schülerinnen, die mittlerweile eine Freundin mit an Bord geholt hatten.

„B. hat gelogen“

Wieder einen Tag später wurde bekannt, dass B. Sozialhilfe erhält. Diesmal schrie die Presse auf. „B. hat gelogen“, lesen wir. Und die drei Mädchen gaben zu Protokoll, dass sie „tief enttäuscht“ seien von B. „Aber wir setzen unser Projekt fort. Das Geld, das wir eingesammelt haben, kommt anderen Obdachlosen zugute.“ Darüber hinaus wollen sie am 6. Juni in Antwerpen Suppe an Straßenbewohner verteilen.

Wie wurde bekannt, dass B. Sozialhilfe erhält? Antwerpener Hilfsorganisationen, die sich um Straßenbewohner kümmern, hatten kritische Reaktionen auf Facebook gepostet. Es war nicht ihre Absicht, B. zu diffamieren. Aber die Presse riss Zitate aus dem Zusammenhang und schon gab es wieder ausreichend Stoff für sensationelle Artikel, in denen B. in Grund und Boden gebohrt wurde.

Mit der Hauptperson hat niemand gesprochen

Das Ganze ist ein Lehrstück in miesem und verantwortungslosem Journalismus. Die drei jungen Mädchen haben der Presse bereitwillig Auskunft gegeben. Mit der Hauptperson, nämlich B., hatte niemand gesprochen. Und auch nicht mit Menschen, die sich beruflich um die Vierte Welt kümmern und die Situation richtig hätten einschätzen können.

Tatsache ist, dass B. – den die Autorin dieser Zeilen zufällig aus ihrer Arbeit als Ehrenamtliche kennt – seit ungefähr 20 Jahren auf der Straße lebt. Tatsache ist auch, dass er wöchentlich 70 Euro Sozialhilfe erhält. Tatsache ist wahrscheinlich weiter, dass er dies den beiden Mädchen nicht erzählt hat. Aber kann man von 70 Euro wöchentlich leben? Anstatt B. an den Schandpfahl zu nageln, hätte die Presse erst einmal mit dem Öffentlichen Sozialhilfezentrum sprechen müssen, das B. begleitet. Und sie hätte gewiss sein Foto nicht veröffentlichen dürfen.

B., der sich in seinem Straßenbewohnerbiotop eingerichtet hatte, kann nur noch so schnell wie möglich aus Antwerpen verschwinden. Aber mittlerweile kennt man sein Gesicht in ganz Belgien. Bekanntlich gibt es unter Straßenbewohnern ebenso viel Kameradschaft wie Missgunst. Häme wird ihm zuteil werden, wenn er wieder auf der Straße auftaucht und bettelt. Und nicht nur von seinen Schicksalsgenossen, auch von den Passanten. Da hilft auch nicht mehr, dass er „sich aus dem Projekt zurückgezogen“ hat, wie wir auf Facebook nachlesen können. Und dass die drei jungen Mädchen sein Foto entfernt haben.

Verletzliche Menschen oder Gruppen…

Ein Fall von Emo-Journalismus, wie er heute gang und gäbe ist. Das Facebook liefert reichlich Stoff dafür. Die Fakten werden nicht mehr überprüft. Man spricht nicht mehr mit Experten, auch wenn es um verletzliche Menschen oder Gruppen geht. Namen werden ausgeschrieben, Fotos ohne Zustimmung der Betroffenen veröffentlicht. Man kann den vom Internet auferlegten Zeitdruck im Nachrichtengeschäft dafür verantwortlich machen. Aber es gibt immer wieder Opfer, von der Hollywoodberühmtheit bis zum Bettler.

Und der „Fall B.“ ist auch ein Lehrstück für die Gesellschaft. Die drei jungen Mädchen haben es gut gemeint. Aber kann man die Situation von Menschen am Rande der Gesellschaft durch solche spontane Aktionen dauerhaft verbessern? Nützt es, bloß Pflaster auf die Wunden zu kleben? Davon abgesehen, dass man ausgerechnet Straßenbewohnern besser nicht mit Geld „hilft“.

Wir haben in diesem Artikel das Wort „Obdachloser“ so weit wie möglich vermieden. Denn es zeugt von wenig Respekt vor den Straßenbewohnern. Auch B. hätte es verdient, respektvoll behandelt zu werden. Ich möchte wissen, wo er jetzt steckt. Er hat sein Biotop verloren, sein Ruf ist dahin. Und von dem eingesammelten Geld wird er auch nichts sehen; er wird sich nächsten Samstag noch nicht mal einen Teller Suppe auf dem Antwerpener Rooseveltplaats abholen können.

Marion Schmitz-Reiners

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