15 000 flämische Kollaborateure, Angehörige der SS und ihre Familien folgten im September 1944 den aus Belgien abziehenden deutschen Truppen und wurden in den “Gau Osthannover” evakuiert. Diese Flucht vor den vorrückenden Alliierten ist heute in Belgien und Deutschland fast unbekannt. Ebenso wenig weiß man, dass 1944 eine flämische Exilregierung (Vlaamse Landsleiding) mit Sitz in Bad Pyrmont gegründet wurde.
Rosine De Dijn, eine flämische, seit langem in Deutschland lebende Autorin, hat in ihrem Buch “Die Gäste des Führers” die Geschichte dieser Flamen erforscht, dokumentiert und beschrieben und mit zahlreichen Fotos – auch aus Privatbesitz – illustriert, bis hin zum Untergang des “Jugendbataillons Flandern”, das aus etwa 600 jungen Flamen ab 15 – 16 Jahren bestand. Sie sollten zusammen mit den SS-Divisionen “Langemarck” und “Wallonien” in Pommern gegen Kriegsende die Panzer der Roten Armee aufhalten und sind dabei fast alle umgekommen.
Die freiwillige Rückkehr oder die “Repatriierung” der Evakuierten nach Belgien durch die Alliierten beschreibt die Autorin ebenfalls.
Widerstände gegen die Erforschung der Vergangenheit
Bei Recherchen über die Flucht deutscher Adelsfamilien aus Pommern stieß Rosine De Dijn auf flämische SS-Freiwillige, die im März 1945 bei einem Himmelfahrtsunternehmen der Roten Armee gegenüber standen. Das wollte sie genauer wissen. In der belgischen Provinz Limburg war sie mit ihren Nachforschungen nicht willkommen. “Das Thema Kollaboration und Widerstand ist in dieser Region immer noch recht heikel”, hieß es. Man habe sich “bewußt dafür entschieden, zu diesem Teil der flämischen Geschichte weder Interviews zu führen noch Quellenforschung zu betreiben”. Also machte sie sich auf in die Archive in Belgien und in Deutschland und reiste in den Osten der Lüneburger Heide und in die Talaue der Elbe. Sie suchte Heimatforscher und Zeitzeugen auf, um den Spuren der evakuierten Flamen nachzugehen.
Reise in die Vergangenheit der eigenen Familie
Für Rosine De Dijn wurde die Reise in die Vergangenheit zu einer “zum Teil schmerzhaften” Reise zu sich selber, in ihre Vergangenheit und die ihrer Familie. Schon als Kimnd spürte sie, “dass an manchen Dingen vorbeigeredet wurde”. Über dem Alltag schwebte “eine kollektive Verschwörung des Schweigens”.
Durch ihre mühevollen Nachforschungen bekam sie Klarheit: Ihr Vater war nach dem Krieg wegen “Unterstützung des Feindes” zu einem Jahr Gefängnis auf Bewährung verurteil und später rehabilitiert worden. Die Autorin bedauert, dass sie “nicht gefragt hat”, als ihre Eltern noch lebten. Anderen, die sie getroffen hat, ging es genauso.
Das Leben der flämischen Flüchtlinge
Das Leben im Gau Ost-Hannover, der dem späteren Regierungsbezirk Lüneburg entsprach, sah ganz anders aus, als man es vor der Evakuierung versprochen hatte. Die Flüchtlinge waren meist in der Lüneburger Heide in Schulen, Speichern, Gaststätten und Bauernhöfen untergebracht, oder in Gemeinschaftsanlagen mit Stroh und Ungeziefer. 5000 von ihnen waren im “Gau Südhannover-Braunschweig” untergebracht. Sie beklagten sich, dass sie schlechter behandelt würden als Holländer oder wallonische Anhänger des Rexisten und SS-Sturmbannführers Léon Degrelle.
Der Schulunterricht funktionierte mehr schlecht als recht, und die Versorgung mit Lebensmitteln und Gebrauchsgütern ließ zu wünschen übrig. Umso besser funktionierte die Erfassung von Kindern und Jugendlichen in den Organisationen des Nationalsozialismus. Die Exilzeitung “Vlaanderen vrij” kündigte an, dass flämische Jungen und Mädchen auch zum Arbeitsdienst verpflichtet wurden. Danach wurde erwartet, dass sich die Jungen als SS-Freiwillige meldeten.
Die flämische Exilregierung
Das Schloß Waldeck-Pyrmont in Bad Pyrmont, das als SS-Lazarett und Erholungsheim diente, war ab September 1944 Tagungsstätte der “Vlaamse Landsleiding”, der Flämischen Exilregierung. An ihrer Spitze stand SS-Sturmbannführer Jef van de Wiele, Gründer der Vereinigung “De Vlag”, Vetreterin der NS-Ideologie, unterstützt vom prominenten Vlag-Repräsentanten Rob van Roosbroeck und Eggard Delvo vom kollaborierenden Vlaams Nationaal Verbond (VNV). Der katholische Geistliche und Autor Cyriel Verschave, der später hingerichtete Dr. August Borms, eine “mythische flämisch-nationalistische Figur” und Professor Antoon Jacob (Hamburg und Gent) “standen Pate”, wie Rosine De Dijn schreibt.
Als das ganze Schloß als Lazarett benötigt wurde, zog die Exilregierung weiter ins Sudetenland und tagte zum letzten Mal am 7. Dezember 1944 in Aussig (heute Usti nad Labem).
Die flämische und wallonische Volksgruppe sollten nun “Befreiungskomitees” aufstellen, um für die Befreiung Belgiens zu kämpfen.
Für Gott in den Kampf um den Endsieg
Am 16. Dezember 1944 begann die deutsche Ardennen-Offensive. Im Rheinland standen Jef van de Wiele und Léon Degrelle bereit, um mit den deutschen Truppen nach Belgien zurückzukehren. Doch die Offensive war am 27, Dezember zu Ende. Flämische SS-Soldaten, die in der Nordeifel standen, gingen zurück nach Soltau. Dort wurde die Einheit mit den 600 jungen Flamen aufgefüllt, die man kurz ausgebildet hatte und die schlecht ausgerüstet waren. Die Autorin zitiert Cyriel Verschave: “Der Satan steigt auf im Osten… Flamen, steht alle auf!” “Für Gott, für den man jetzt in den Kampf zieht”…
Nach den mörderischen Kämpfen gegen die Rote Armee wurden die überlebenden jungen Flamen aufgefordert, ihre Uniform abzulegen und Zivilkleider anzuziehen, vor allem kurze Hosen. Sie waren auf sich allein gestellt.
Das Leiden im Krieg und danach
Rosine De Dijns Buch geht weit über seinen Titel hinaus. Es schildert den politischen. zeitgeschichtlichen und militärischen Zusammenhang, die Verfolgung von Juden und politischen Gegnern, die elende Behandlung von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern, aber auch den Widerstand gegen die deutsche Besatzungsmacht. Rache an vermuteten Kollaborateuren und Bestrafung nach dem Kriege werden angesprochen.
Die Autorin ist´in Gesprächen und Erlebnissen auf Fehlen der Einsicht in die Untaten des Dritten Reiches gestoßen.
Jan Kurlemann
“Die Gäste des Führers” erschien 2014 im Grenz-Echo Verlag Eupen.
Eine niederländische Fassung erschien gleichzeitig im Verlag Manteau, Antwerpen.
Ein Pressebericht um die Schülersoldaten und die Schlacht um den Brückenkopf Mescherin (Oder) Ende April 1945 findet sich hier: https://www.moz.de/schlichte-tafel-erinnert-an-3000-gefallene-48460534.html?_XML=AMP
Im Juli 2020 besuchte ich Mescherin. Direkt am Oderradweg steht ein Findling mit einer Erinnerungsplatte: “in Gedenken der in der Schlacht um den Mescheriner Brückenkopf vom 19.-25. April 1945 GEFALLENEN
1711 Soldaten der Deutschen Wehrmacht
812 Soldaten der 70. Roten Armee
260 Schülersoldaten aus Flandern” . Gestiftet hat sie Günter Höppner, der Autor des Zeitzeugenberichts “Die Schlacht um Mescherin”, darin u. a. Berichte von R.Windels, Jan Bogaert, Roger Bys.
Ich bin Historiker und bearbeite die Zeit des Nationalsozialismus in einem Teil des ehemaligen “Gaus Südhannover-Braunschweig”, in dem 1944/45 zahlreiche Wallonen untergebracht waren.
Gibt es zu den wallonischen Kollaborateuren eine ähnliche Untersuchung wie die Arbeit von Rosine De Dijn? – Wenn ja, würde ich mich sehr über die Herstellung eines Kontaktes freuen!
Dr. Kai Witthinrich
c/o Museum für Stadt- und Regionalgeschichte
Kellerstraße 13
31848 Bad Münder
Deutschland
Lieber Jan !
Ich danke Dir für diese Besprechung. Man kommt aus dem Erstaunen nicht heraus!
Ich hatte nie darüber gehört, danke dafür!