Von Friedhelm Tromm.
Ist Toleranz eine (zumindest fast) selbstverständliche Tugend im demokratischen, vereinten Europa? Spätestens seit der europäischen Flüchtlingskrise, die Millionen von Menschen aus anderen Kulturkreisen nach Mitteleuropa, vor allem nach Deutschland, geführt hat, stellt sich die Frage neu, wie man trotz unterschiedlicher Lebensformen, Religionen und Moralvorstellungen friedlich miteinander leben kann. Welche Brisanz das Thema allerdings in Brüssel erhalten kann, hätten sich die Initiatoren der internationalen Deutschen Schule (iDSB) sicher nicht träumen lassen, als sie, lange vor den Terroranschlägen von Paris und ihren Auswirkungen bis in die europäische Hauptstadt hinein, das schul-, nationen- und fächerübergreifende Projekt „Toleranz!?“ ins Leben riefen.
Auf Anregung der iDSB: eine Kooperation zwischen drei Schulen
„Die Welt scheint wie aus den Fugen“, stellte Schulleiter Jürgen Langlet in seiner Ansprache zu Beginn des Abends fest, und fuhr sogleich fort: „Umso mehr ist es in diesen Zeiten pädagogische Pflicht, den Schülerinnen und Schülern dabei zu helfen, einen eigenen Standpunkt zu finden, aber keinen verordneten, sondern einen eigenen, in Mündigkeit. Dabei ist es vor allem die Vernunft, die gegen Dogmatik jeglicher Art immunisiert“.
Die deutschsprachigen Schüler der iDSB aus der Jahrgangsstufe 10 hatten zuvor fächerübergreifend wochenlang mit Jugendlichen der (englischsprachigen) DY Patil School in Antwerpen und dem Brüsseler Lycée Français Jean Monnet zusammengearbeitet, sollten sich doch, passend zum Thema, Schüler verschiedener Sprachen und Nationen auch persönlich begegnen. Nicht ohne (bittere) Ironie war es, dass nun die französischen Schüler am 10. 12. nicht nach Wezembeek-Oppem fahren durften, wegen verschärfter Sicherheitsmaßnahmen ihrer Schulleitung, auch wenn dies die Bedeutung des gesamten Vorhabens nur ein weiteres Mal unterstrich.
Jürgen Langlet zeigte sich begeistert von dem Engagement aller Beteiligten: „Es ist phantastisch, was hier geleistet wurde“, sagte er, und Andrew Mitchell, stellvertretender Schulleiter der DY Patil School, bezeichnete ein Projekt wie dieses gar als „Höhepunkt im Leben eines Lehrers“, an dem man sagen könne: „This is why I’m doing it!“. Besondere Anerkennung zollte er der Kompetenz seiner Schüler: „My students are truly experts on tolerance.“
Vielfältige Annäherungen an ein komplexes Thema
In der Tat, wer anders als junge Menschen, und besonders diejenigen, die im Ausland leben und aufwachsen, wäre besser dazu in der Lage, sich mit einer derartigen Thematik aufgeschlossen und motiviert auseinanderzusetzen? Die Ergebnisse sprachen jedenfalls für sich.
So erläuterten die Schüler des Philosophie-Kurses Simon Geilen und Valentin Ködderitzsch dem Publikum auf fachlich hohem Niveau die vier Toleranz-Konzeptionen des Philosophen Rainer Forst.
Am Beispiel des in Saudi-Arabien zu 10 Jahren Gefängnis und 1000 Peitschenhieben verurteilten und im Gegenzug von der EU für seinen Einsatz für Toleranz ausgezeichneten Internet-Aktivisten Raif Badawi wurde der unterschiedliche Umgang mit dem Menschenrecht auf Meinungsfreiheit von den Schülerinnen Lotti Debusman und Gina Huber problematisiert.
Im Rahmen des Deutschunterrichts wurde eine Umfrage zum Thema unter Brüsseler Passanten durchgeführt und filmisch dokumentiert, wobei u. a. auch ein irakischer Flüchtling interviewt wurde.
Und Lessings „Ringparabel“ wurde als szenische Interpretation in beeindruckender Weise auf der iDSB-Bühne zu neuem Leben erweckt.
Faszinierend auch die musisch-künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Thema: Installationen aus dem Kunstunterricht brachten das Wort „Toleranz“ buchstäblich zum „Leuchten“, das iDSB-Kammerorchester präsentierte, klanglich sehr einprägsam, John Lennons berühmten Song „Imagine“, und dem Zauber der Interpretation des Themas als Schattentanz konnte sich wohl kaum ein Zuschauer entziehen.
Zweifellos den Höhepunkt der Ausstellung bildete ein künstlerisches Gemeinschaftswerk der Schüler der DY Patil School und der iDSB: Neben kleinen Einzelleinwänden, die jeder Schüler bearbeitete, entstand ein 120 x 120 cm großer, rotierender Leinwandwürfel als „Mahnmal“, mit seinem abwechselnd erscheinenden Ausrufe- und Fragezeichen der Blickfang der gesamten Schau.
Hatte Goethe Unrecht? – Am Ende mehr Frage- als Ausrufezeichen
Für manchen vielleicht überraschend: Ausgerechnet der „Klassiker“ Johann Wolfgang von Goethe kennzeichnete einst Toleranz als durchaus fragwürdige Haltung: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muss zur Anerkennung führen“, schrieb er in seinen „Maximen und Reflexionen“, und formulierte pointiert: „Dulden heißt beleidigen“. – „Wir finden, hier hatte Goethe – ausnahmsweise – einmal Unrecht“, meinten Paula Grammatikos, Julia Berger (beide iDSB) und Anusha Ahuja (DY Patil School) schmunzelnd in ihrer Rede, denn Toleranz sei eine hohe und durchaus schwer zu erlangende Tugend.
Gleichzeitig resümierten sie nachdenklich: „Am Ende bleiben für uns mehr Frage- als Ausrufezeichen, dies hätten wir zu Beginn nicht gedacht.“ Schwierig seien insbesondere die Fragen nach den Grenzen der Toleranz: Wie weit soll Toleranz eigentlich gehen? Wieviel Intoleranz darf toleriert werden? Wann führt Toleranz zu Beliebigkeit?
Schüler diskutierten mit dem Botschafter
Einige dieser Fragen konnten noch am Abend mit keinem geringeren als dem deutschen Botschafter, Rüdiger Lüdeking, weiter erörtert werden. Der Botschafter nahm sich sehr viel Zeit für die Schüler, ließ sich noch vor Beginn des ‚offiziellen Teils’ des Abends durch die Ausstellung führen, wandte sich in einer längeren Ansprache an das Publikum und diskutierte anschließend mit den Jugendlichen auf Augenhöhe.
„Ja, es gibt Grenzen der Toleranz, nämlich dort, wo Grundrechte nicht respektiert werden“, meinte er mit Nachdruck, weshalb es sehr passend gewesen sei, die Veranstaltung auf diesen Tag zu legen. Auf die Grund- und Menschenrechte als eine Errungenschaft der Aufklärung könne man stolz sein, ihre Einhaltung sei jedenfalls in Europa von allen einzufordern, Parallelgesellschaften dürften nicht geduldet werden.
Dies hieße auch: „Toleranz bedeutet nicht Indifferenz, weder gegenüber Werten, noch gegenüber der Wahrheit.“ Deshalb sei es wichtig, den eigenen Standpunkt auch wirklich zu vertreten, selbst wenn dies unter Umständen mit Nachteilen verbunden sei, auch als Voraussetzung für echte Toleranz. Dazu gehöre Mut, aber, so der Botschafter: „Wir leben hier in Europa unter vergleichsweise kommoden Verhältnissen, und gerade Leute, die gut abgesichert sind, sollten den Mut haben, ihr Recht auf freie Meinungsäußerung wahrzunehmen.“
Nun, Mut dürfte eine mindestens ebenso schwierige Tugend sein wie Toleranz, und vielleicht ziert dieser Begriff, als „Leitwert“ der iDSB, deshalb nicht zu Unrecht das Foyer der Schule an zentraler Stelle. Verhilft uns aber tatsächlich zuletzt vor allem der Mut dazu, uns einerseits der Intoleranz entgegenzustellen, andererseits, gerade angesichts der quasi allgegenwärtigen Forderung nach Toleranz, nicht in eine neue Unverbindlichkeit abzugleiten, die schließlich auch niemandem helfen würde?
Fotos: Friedhelm Tromm
Beiträge und Meinungen