Von Christina Michaelis
Als sie gerade aufgehört hatten, beschlossen sie neu anzufangen. November 2002, in einer Kneipe in Brüssel: Eigentlich haben der deutsche Journalist Rudolf Wagner und zwei Kollegen den stressigen Berufsalltag hinter sich. Eigentlich. So ganz können und wollen sie es nämlich nicht sein lassen. Während ihrer Korrespondentenzeit hat sich viel Wissen angesammelt. Einfach versickern lassen? Zu schade. Also ziehen die drei eine eigene Webseite für Deutschsprachige in Belgien auf – um ihre Erfahrungen mit dem kleinen, oft unterschätzten Land zwischen Frankreich, Deutschland und den Niederlanden weiterzugeben.
Knapp 14 Jahre später sitzt Rudolf Wagner an seinem Schreibtisch in der Rue Jacques Jordaens und zählt auf: „Fritten, Schokolade, Muscheln.” Das ist für viele Menschen Belgien, das sind die Klischees, die jedem sofort einfallen. „Belgien”, sagt Wagner, „ist aber so viel mehr als Fritten.” Dieser Botschaft hat sich seine mittlerweile preisgekrönte Seite belgieninfo.net verschrieben. Im Brüsseler Stadtteil Ixelles hat die kleine Reaktion ihren Sitz — genauer: in den Räumen der Vertretung der Deutschsprachigen Gemeinschaft, die in Belgien die deutschsprachige Minderheit vertritt. Ein Drucker, zwei Computer, ein paar Laptops — viel mehr brauchen sie nicht. Dreißig Autoren arbeiten nach Bedarf ehrenamtlich für die Internetseite, manche regelmäßig, andere nur hin und wieder. Über Anzeigenerlöse deckt die Redaktion ihre technischen Kosten, Honorare gibt es nicht, auf ihre Unabhängigkeit legt sie viel Wert.
Und die Themen?Drehen sich vor allem um das Land und seine Facetten, die hiesige deutschsprachige Community und ihre Veranstaltungen. Ob politischer Kommentar oder historische Erzählung: Chefredakteur Rudolf Wagner und seine Kollegen schreiben vor allem für frisch Zugezogene und solche, die geblieben sind. Ganz wichtig sind Steuertipps und Ratschläge für den Immobilienkauf. „Belgien zu durchschauen, ist nicht leicht”, sagt Wagner. Er selbst lebt seit über 35 Jahren hier. Jahrelang hat der heute 75-Jährige, erst für die ARD, später für RTL, aus Brüssel berichtet. Kritische Töne scheut er nicht. „Beim Belgien-Bashing nach den Terroranschlägen von Paris und Brüssel haben wir uns mit der Berichterstattung aber zurückgehalten”, erzählt er. So weit geht die Redaktion nicht.
Nichts verschweigen, aber auch nicht draufhauen, lautet der Ansatz. Schließlich will sie, bei aller Aufklärung, auch das positive Bild von Belgien schärfen. Dem Land, das bis heute geprägt ist vom ewigen Konflikt zwischen Flamen und Wallonen, einem Land, das mit Blick auf Problembezirke wie Molenbeek als Terroristenhort verschrien ist und sich durch
sein Verwaltungschaos selbst lähmt. Und: über das abseits der Klischees nicht viel bekannt ist.
Dabei habe es „unglaublich viele positive Aspekte, hier zu leben. Darüber wird nur so gut wie gar nicht gesprochen”, sagt Miriam Pankarz. Seit 2012 lebt die Deutsche in Brüssel. Über belgieninfo.net holte sie sich anfangs Starthilfe — mittlerweile gibt sie darüber selbst weiter, was sie erlebt und gelernt hat.
Die größte Konkurrenz für die Redaktion, die als Verein nach belgischem Recht organisiert ist: Peppige Facebookseiten, private Netzwerke, Newsletter der staatlichen Institutionen und die deutschsprachige Zeitung Grenzecho. „Die berichten tagesaktuell. Das können wir nicht leisten”, sagt Rudolf Wagner. Wollen sie aber auch gar nicht. Stattdessen: Belgienfans — auch denen, die nicht hier leben – ein Forum, Neuankömmlingen im Land eine Anlaufstelle bieten. Und ihnen die kleine Nation im Nordwesten Europas näherbringen. Fritten, Schokolade und Muscheln gehören natürlich auch dazu.
Der Beitrag erschien zuerst in der Berliner Zeitung vom 27. Juli 2016
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