Im Palast der Nation in Brüssel, dort wo die Abgeordnetenkammer und der Senat Belgiens beheimatet sind, steht die Büste eines Premierministers, die sich grundlegend von den dort aufgestellten Portraitbüsten anderer politischer Würdenträger unterscheidet: Während diese zumeist ein idealisiertes Brustbild der jeweiligen Person zeigen, irritierten am Kopf von Paul-Émile Janson der gleichsam schmerzerfüllte Gesichtsausdruck und die geschlossenen Augen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, einer dreidimensionalen Totenmaske statt einem Portraitkopf gegenüberzustehen.
Wer war Paul-Émile Janson, der den Künstler Charles Despiau 1946 zu solch einer ungewöhnlichen, ja beunruhigenden Darstellung veranlasste?
Eine angesehene Politikerfamilie
Paul-Émile Janson wurde 1872 in eine angesehene, liberal-demokratisch gesinnte Familie hinein geboren. Jansons Schwester Marie Janson wurde 1921 die erste weibliche Senatorin Belgiens und setzte sich für das Wahlrecht für Frauen ein, das in Belgien erst seit 1948 gilt. Der Vater war der große Liberale Paul Janson, der sich in seiner Zeit als Abgeordneter und später als Senator dadurch einen Namen machte, dass er sich für das allgemeine Wahlrecht für Männer einsetzte und das Zensuswahlrecht bekämpfte. Das war in einer Zeit, als die Katholiken noch die politisch die Kraft besaßen, entsprechende Reformen zu blockieren. Was dem Vater bis zu dessen Tod 1913 noch verwehrt war, das gelang seinem Sohn Paul-Émile 5 Jahre später.
Völkerbund
Paul-Émile Janson studierte wie sein Vater Rechtswissenschaften an der Freien Universität Brüssel. Dort verabschiedete er sich von den sozialistischen Ideen seiner Jugend und wandte sich dem Liberalismus zu. 1910 folgte er seinem Vater in die Politik und saß von 1914 bis 1935 für Doornik (Tournai) in der Abgeordnetenkammer.
Von 1926 bis 1929 vertrat Paul-Émile Janson Belgien im Völkerbund. Er wurde dort am 5. September 1929 Zeuge der berühmten Rede des französischen Premier- und Außenministers Aristide Briand, der zu einer ‚Europäischen Föderation’ aufrief, wobei er besonders auf die politische Notwendigkeit einer strukturierten Zusammenarbeit der europäischen Staaten auf politischer und wirtschaftlicher Ebene hinwies. Briands Warnung, dass ein Scheitern dieses Vorschlages ‚verheerend’ wäre, bewahrheitete sich fast auf den Tag genau zehn Jahre später mit Beginn des Zweiten Weltkrieges am 1. September 1939. – Es war erst Jansons Neffen Paul-Henri Spaak beschieden, als Premier- und Außenminister Belgiens Briands Ideen im Nachkriegseuropa umzusetzen. Janson selbst sollte ein vereintes Europa nicht mehr erleben.
Instinkt im Sprachenstreit
Als mehrfacher Justizminister bot sich Janson in der Zwischenkriegszeit die Chance, die belgische Rechtsprechung zu modernisieren. Dabei bewies er auch im Sprachenstreits zwischen Wallonen und Flamen Instinkt: Das heute noch gültige Sprachgesetz in Rechtssachen von 1935 beruhte auf einem Gesetzesentwurf, den er selbst 1930 als Justizminister ausgearbeitet hatte. Jansons eigenes Kabinett, das von 1937/1938 nur wenige Monate amtierte, installierte einen französischsprachigen und einen niederländischsprachigen Kulturrat, die einen wichtigen Schritt zur Gleichstellung der niederländischen Sprache darstellten.
Flucht und Verhaftung
Beim Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Belgien im Mai 1940 gehörte Janson als Minister ohne Geschäftsbereich dem Kabinett Pierlot an. Da die Regierung eine Zusammenarbeit mit den deutschen Besatzungsbehörden ausgeschlossen hatte, verließ sie Belgien rasch in Richtung Frankreich und ging später ins Exil nach London. Janson jedoch blieb mit drei Kabinettkollegen, unter ihnen Eugène Soudan, in der „zone libre“, dem nicht besetzten Teil Frankreichs unter dem sog. Vichy-Regime. Dieser Schritt wurde ihm Ende 1943 zum Verhängnis.
Janson hatte es lange abgelehnt, Frankreich zu verlassen. Er wollte die Befreiung Europas miterleben und das Los seiner Landsleute weitgehend teilen. Als die Wehrmacht im Herbst 1943 die „zone libre“ besetzte, wurde es auch für Janson höchste Zeit, nach Großbritannien zu gehen. Die Einschiffung in Sète gelang jedoch nicht. Nach Nizza zurückgekehrt, verhaftete die Gestapo Janson umgehend. Der Grund für seine Inhaftierung: Er war Mitglied der Exilregierung Belgiens.
Janson kam als politischer Gefangener zunächst ins Gefängnis nach Fresnes bei Paris. Kein Interventionsversuch konnte den ehemaligen Premierminister davor bewahren, von dort aus Ende Januar 1944 in das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar deportiert zu werden.
Das Kleine Lager von Buchenwald
Nach seiner Ankunft in Buchenwald kam Janson in das sog. Kleine Lager, das er nicht mehr verließ. Das Kleine Lager war eine Art Quarantänestation, wo der Häftling keine Arbeit verrichteten musste, aber auch nur halbe Ration an Lebensmitteln erhielt. Hatte der Häftling das Kleine Lager überlebt, kam er ins große Lager oder in eines der Außenlager. Hier wurde er dann einer der Arbeitskolonnen zugewiesen, die beispielsweise zur Zwangsarbeit im Erla-Maschinenwerk GmbH in Leipzig, in den Junkers Flugzeugwerken in Schönbeck und den Rautalwerken in Wenigerode eingesetzt wurden. Das Konzentrationslager Buchenwald war ein Arbeitslager. Deshalb sind die Opferzahlen im Vergleich zu den reinen Vernichtungslagern wie Auschwitz hier relativ niedrig: Buchenwald haben zwischen 1937 und 1945 mehr als 250.000 Menschen durchlaufen, ca. 56.000 davon fanden hier den Tod.
Tod in den Armen des Freundes
Der Winter 1944 war kalt, die Baracken des Blocks 56 im Kleinen Lager zugig und überfüllt. Anders als seine ehemaligen Amtskollegen Édouard Daladier, Paul Reynaud und Léon Blum, die als Sonderhäftlinge zur selben Zeit ebenfalls in Buchenwald einsaßen, waren, genoss der 71-jährige Paul-Émile Janson keinerlei Hafterleichterungen. Janson traf im Kleinen Lager übrigens wieder auf Eugène Soudan und ihrem gemeinsamen Landsmann Albert François (1879-1946), einem Sozialisten, den er noch aus seiner Tätigkeit während des Ersten Weltkrieges im „Comité National de Secours et d’Alimentation“ kannte.
Zu Beginn 1944 lag die Landung der Alliierten in der Normandie in weiter Ferne, ebenso die Befreiung Belgiens im September desselben Jahres und das letzte Aufbäumen der Wehrmacht in den Ardennen im Dezember 1944: von all dem sollte nichts mehr an Jansons Ohren dringen. Als US-amerikanische Truppen im April 1945 Buchenwald befreiten, hatten Soudan und François die Leiden des Lagers überlebt. Paul-Emile Jansons Asche hingegen war schon mehr als ein Jahr zuvor auf dem Gelände des Konzentrationslagers verstreut worden. Er war bereits am 3. März 1944 in den Armen von Albert François an Entkräftung gestorben.
Andrea-Ilona Debes, Aachen
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