Von Michael Stabenow.
Eine Fahrt ins Ungewisse
Das ist die Geschichte von Adrian und Adriana – dem ziemlich ausgekochten britischen Nuklearlobbyisten und der etwas sprunghaften slowakischen EU-Beamtin. Dass und wie sich ihre Wege in Brüssel gekreuzt haben, ist im Dunstkreis der EU-Institutionen gewiss nicht ungewöhnlich. Auch die Einblicke in das Leben von Zeitgenossen, die es beruflich und damit auch privat nach Brüssel verschlagen hat, sind keineswegs ungewöhnlich.
Einleuchtend klingt es zum Beispiel, dass Adrian „Ordnungssinn und Ehrgeiz“ seiner früheren deutschen Ehefrau vollkommen abgehen. „Hätte der Personalchef damals sehen können“, so verrät Autor Roland Siegloff, “wie Unterhosen und Hemden in seiner Wohnung herumflogen und sich die Unterlagen fürs Finanzamt stapelten, er hätte vermutlich nie seinen gut bezahlten Job in Brüssel bekommen.“ Und Adriana? „Dunkles Haar, blaue Augen – ein Traum!“ Und nicht nur dies, sondern, wie der Autor Adrian schwärmend bezeugen lässt: „EU-Bürgerin ist sie natürlich auch, dazu hat sie einen prima Job bei der Kommission, verdient gut und ist sparsam.“
Der Verfasser
Roland Siegloff, jahrelang Korrespondent der Nachrichtenagentur dpa in Brüssel und seit einiger Zeit zwischen der belgischen Hauptstadt und Berlin pendelnd, dokumentiert zwei berufliche und persönliche Schicksale, wie es sie nicht nur rings um den Brüsseler Rond-Point Schuman vielleicht hundertfach gibt und die doch für sich stehen.
Plötzlich folgt das, was eigentlich die Vorstellungskraft der meisten Leser sprengt und was Siegloff als geübter Chronist laufender Ereignisse dennoch in eine seltsam sachlich anmutende Sprache kleidet. Die Paukenschläge. Es beginnt mit einem Anruf um halb sechs Uhr morgens und dem freundschaftlich gemeinten Rat eines offenbar bestens informierten Zeitgenossen namens Henny De Haan. Freundin Adriana und seinem Sohn Tom sagt Adrian darauf die nackte Wahrheit ins Gesicht: „Tschernobyl und Fukushima waren die größten Nuklearunfälle bisher, und der Störfall Tihange könnte eine ähnliche Dimension bekommen, wenn ich Henny glauben darf.“
Er darf es nicht nur glauben, er tut es auch, packt Freundin und Sohn in das schmucke Sechszylinder-Cabrio, bricht auf – und damit sämtliche Brücken hinter sich ab. Auch Adriana wird an diesem Tag nicht mehr an ihrem Brüsseler Arbeitsplatz in der „Abteilung zur Analyse und Verbesserung des subjektiven Glücksgefühls der Europäerinnen und Europäer“ in der Europäischen Kommission auftauchen. Siegloff lässt die drei Hals über Kopf ausbrechen und nimmt den erstaunten Leser mit auf die Reise nach Südosten – ehe „Wolke sechs“ in umgekehrter Richtung Brüssel erreichen kann. Es ist eine Fahrt ins Ungewisse und ein tiefer Einschnitt im Leben und Fühlen eines Mannes, der die Welt der Verheißungen und Risiken von Kernkraftwerken wie nur wenige andere kennt.
Ein Zeitgenosse, der im beruflichen Alltag die Kernkraft über den grünen Klee gelobt hat – und nun zu den ersten gehört, die vor ihr die Flucht ergreifen. „Er mochte Wünsche, Hoffnungen haben. Sicherheiten gab es keine mehr“, attestiert Siegloff Adrian. Dafür gibt es weitere Rückblenden und überraschende Wendungen mit einem unerwarteten Ausklang eines griffig und immer wieder humorvoll formulierten Romans, der den Leser zuweilen fast auf „Wolke sieben“ mitschweben lässt. Und es findet sich sogar unterwegs Zeit für einen Abstecher nach Aachen samt Einkauf in einem örtlichen Drogeriemarkt.
Jenseits der Grenze und in sicher geglaubter Entfernung des in Aachen mehr als in Belgien bedrohlich empfundenen Kernkraftwerks Tihange kommt ihm unweigerlich ein – für deutsche Expats in Brüssel nicht untypischer – Ausspruch seiner Ex-Frau in den Sinn: „Es ist wirklich alles viel billiger hier! Ich verstehe nicht, warum die Belgier hier nicht jedes Wochenende in Scharen zum Shoppen einfallen.“
Roland Siegloff, Wolke sechs, Böhland&Schremmer Verlag, Berlin 2018, 208 Seiten.
Beim Brexit nähert sich die Wirklichkeit dem Szenario von “Wolke sechs” immer mehr an. Schlimm genug! Nicht auszudenken, wenn auch die Vision des Autors zu Tihange sich bewahrheiten sollte. Völlig abwegig ist das nämlich nicht. Hoffen wir, dass diese spannende Fiktion nicht von der Realität eingeholt wird!
Das Problem unserer gewaehlten Politiker ist , dass sie meist unmerklich aber sicher durch das Lobbystentum in eine dem Kapital und der Grossindustrie genehme Richtung gesteuert werden.
Schlussendlich ist die viel-geruehmte freie Meinungsbildung und nur dem “individuellen Gewissen” verantwortlich , eine Einbildung und tatsaechlich eine indirekt stattfindender Manipulation der Lobbyisten. Das unsere gewaehlten Volksvertreter doch meistens fern ab von jeglicher Realitaet mit ihrem Weltbild stehen , beinahe jeglichen Kontakt zur gesellschaftlichen Realitaet verloren haben, ist dabei nicht verwunderlich !
Ich rate immer wieder an : Jeder Abgeordnete & Minister sollte zumindest einmal 3 Monate lang von H4 leben muessen und hin und hin und wieder einen Prakticum in einer Fabrik absolvieren,die harte Realitaet, der neue dann gewonnene Blickwinkel / Erfahrung wuerden dann andere politische Entscheidungen & Grundlagenprogramme innerhalb der Parteien und Parlamente bringen. Aber darauf kann der Waehler lange warten, sehr lange !!
Die heutige politische Elite haelt sich fuer unersetzbar und traeumt sich mit Hilfe des Lobbyistentums ihre ihre Realitaet zurecht, wie es eben so passt!