Das elfstöckige Wohnhaus an der Avenue Louise 453, in schicker Umgebung gegenüber der Abtei Terkameren, fällt heutzutage kaum auf. Und doch hat es seine Geschichte, eine grausame Vergangenheit. Hier befand sich einst das Brüsseler Hauptquartier von Himmlers Geheimer Staatspolizei, der Gestapo.
Nur eine Gedenktafel neben der Eingangstür erinnert daran. Und eine Büste des belgischen Fliegerbarons Jean de Sélys, gegenüber dem Haus, mitten auf der Prachtstraße. De Sélys hatte 1943 im Alleingang das Gebäude bombardiert.
Wo bis in die späten 30-er Jahre zwei ortsübliche Herrenhäuser standen, wurde Ende 1939 ein Neubau hochgezogen. Er überragte bei weitem die damaligen Häuser der Avenue Louise. Der Architekt war Stanislas Jasinski, ein Schüler des belgischen Meisters Victor Horta.
Kurz darauf, im Mai 1940, wurde Belgien von Nazi-Deutschland überfallen. Die Gestapo wählte sich das Wohnhaus an der Avenue Louise aufgrund seiner günstigen Lage und seiner Baufestigkeit als Hauptquartier aus. Die Bewohner wurden mit vorgehaltenem Gewehr gezwungen, die frisch bezogenen Wohnungen zu räumen.
In 300 Meter Höhe
Am 20. Januar 1943 flog Baron Jean de Sélys Longchamps von der Royal Air Force nach einer Mission über Gent aus eigener Initiative weiter Richtung Brüssel. Nachdem er im Tiefflug über den Justizpalast, den Cinquantenaire und die Rennbahn von Boitsfort gerast war, bekam der 31-jährige Flieger endlich die Fassade des Gestapo-Hauptquartiers an der Avenue Louise ins Visier. In etwa drei hundert Metern Höhe flog er über die Avenue De Mot und nahm das Hochhaus unter Feuer. Dabei wurden mehrere Menschen im Gebäude verletzt, einige tödlich.
De Sélys warf noch eine belgische Trikolore und einen Union Jack über Brüssel ab, und gelangte ohne Probleme wieder nach England. Wenige Monate später fand er den Tod an Bord seines Flugzeugs. Die Begeisterung ob de Sélys’ patriotischer Geste hielt sich in Grenzen, und das nicht nur bei der Besatzungsmacht. In der RAF wurde der Belgier wegen seiner eigenmächtigen Aktion sogar degradiert.
An der Avenue Louise blieb die Gestapo bis zum 3. September 1944, dem Tag der Befreiung Brüssels durch die Alliierten. Das Hochhaus und die Nachbarhäuser entgingen auch am letzten Tag der Okkupation nur knapp der Zerstörung: In dem Gestapo-Hauptquartier befand sich ein Munitionslager, das die Besatzer nicht in die Hände der Befreier fallen lassen wollten. Doch zur Sprengung kam es nicht mehr. Die Alliierten waren schon in der Stadt.
In privater Hand
Die Bewohner erhielten ihre Appartements zurück. Eine alte Dame, die ihre Wohnung 1940 räumen musste, wohnt hier heute noch. Das Gebäude befindet sich seit 1944 wieder in privater Hand und kann aus diesem Grund nicht besichtigt werden.
Das Einzige, was an die Geschichte dieses Wohnhauses erinnert, sind die Gedenktafel neben der Eingangstür und die Büste von Jean de Sélys Longchamps vor dem Gebäude mitten auf der Avenue Louise. Sie sind, wie in Belgien üblich, sehr vaterländisch gehalten. Von rächenden Flugzeugkanonen ist da die Rede, hervorgehoben wird die Heldentat, unerwähnt bleibt das Leid zahlreicher Namenloser.
Von Philipp Bekaert
Beiträge und Meinungen