Von Thomas Philipp Reiter.
Ein Land in Schockstarre. Nach den Attentaten von Paris und dem nachfolgenden hintersinnigen Hinweis des französischen Präsidenten François Hollande, dass einige der Attentäter einen Wohnsitz im Brüsseler Stadtteil Molenbeek hätten, war in der europäischen Hauptstadt für mehrere Tage kein ziviles Leben mehr möglich. Terrorwarnstufe 4 von 4: sämtliche Großveranstaltungen einschließlich aller Fußballspiele wurden abgesagt, Schulen und Geschäfte geschlossen, gespenstische Ruhe legte sich über die Stadt. Nur die Sirenen der Polizeifahrzeuge und die Rotoren der Hubschrauber auf Sicherheitspatrouille waren zu hören. An die Präsenz belgischen Militärs im europäischen Viertel zwischen Schuman- und Luxemburgplatz hatte man sich bereits gewöhnt. Doch für zwei Arbeitstage am 23. und 24. November kam das öffentliche Leben gänzlich zum Erliegen.
Beinahe täglich durchkämmten Polizeikräfte den Problembezirk Molenbeek-Saint-Jean im Nordwesten der Stadt. Immer wieder kam es zu Verhaftungen. Und dennoch schlich sich auch das Gefühl ein, dass die Staatsmacht hier überreagierte. Medien aus den großen Nachbarländern wiesen mit dem Finger auf Belgien: „Immer wieder Belgien“ titelte sogar die Frankfurter Allgemeine Zeitung. „Le Monde“ aus Frankreich blies ins gleiche Horn. Ein „failed state“, ein gescheiterter Staat sei das kleine Königreich. Eine Botschaft, die dem Jan Jambon, föderaler Innenminister, der sich gleichzeitig in der Rolle als flämischer Separatist wie auch des starken Mannes gefällt, nicht einmal unlieb sein konnte. Er lieferte den Kakao, durch den die Auslandspresse die belastete belgische Polizei zu ziehen versuchte. Schuld am Dilemma sei die sozialistische Vorgängerregierung, die Lösung der Probleme eine Polizeireform, diktierte er den überraschten Auslandsmedien in den Block.
Schulbesuch wieder möglich
Nachdem die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der EU-Institutionen und alle anderen Brüssel-Bewohner ihre Kinder wieder in die Schulen und Kindergärten schicken konnten, wich die blanke Angst langsam klarerem Urteilsvermögen. Sogar die Landesvertretung des Freistaates Sachsen an der Avenue d’Auderghem hatte sich nicht unterkriegen und ihren traditionellen erzgebirgischen Weihnachtsmarkt nicht ausfallen lassen. Belgiens Premierminister Charles Michel verteidigte die Vorsichtsmaßnahmen und verwahrte sich gleichzeitig vor überzogener Kritik aus dem Ausland: Zustände wie in den No-go-areas voller chancenloser Jugendlicher in den Pariser Banlieues oder in Marseille und auch Rassenunruhen wie die „Brixton Riots“ in London gebe es in Brüssel nicht. Auch der frühere Botschafter der Vereinigten Staaten von Amerika in Belgien, Howard Gutman, nahm das Land in Schutz: „Belgien steht an Nummer 14 der sichersten Ländern der Welt. Wenn dies ein gescheiterter Staat ist, dann sind die USA Afghanistan. Das einzige, woran das Land scheitere sei, dass andere die Nachrichten über Belgien diktieren.“
Bereits ab Ende November verlief das diplomatische Leben in Brüssel wieder mit erstaunlicher Routine: der EU-Türkei-Gipfel brachte wenig Neues zutage und auf den Straßen herrschte geschäftiges Treiben. Viele Stadtführer haben aufgrund der massiv gestiegenen Nachfrage ihre Tätigkeit von der Innenstadt nach Molenbeek verlegt. Und die nichtbelgischen Medien werden weiterhin versuchen, ein fremdes und eigenartiges Land mit eigenen Maßstäben zu vermessen. Sie werden daran scheitern und Brüssel wird ein Faszinosum bleiben.
Brüssel ist aus dem Terrorkoma erwacht.
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