Wer als Deutscher ins Ausland geht, wird fast überall mit der deutschen Vergangenheit konfrontiert. In Belgien sind die Geschehnisse des Ersten Weltkriegs fast noch präsenter als die des Zweiten. Ein Ereignis, das weltweit einen Sturm der Entrüstung entfachte, war die Hinrichtung einer englischen Krankenschwester in Brüssel: Edith Cavell. Man hatte sie 1907 in die belgische Hauptstadt eingeladen, um dort eine Schule für Krankenschwestern aufzubauen und zu leiten. Als der Erste Weltkrieg begann, wurde die Schule in ein Rotkreuz-Lazarett umgewandelt. Doch die „feindliche Ausländerin“ durfte auch nach dem deutschen Einmarsch in Brüssel weiter wirken.
Allerdings wurden in der Klinik nicht nur verwundete und erkrankte Soldaten aller Länder gepflegt, sondern auch versprengte alliierte Soldaten versteckt und mit falschen Papieren durch die neutralen Niederlande nach England geschleust. Vermutlich aufgrund einer Denunziation wurden zahlreiche Beteiligte verhaftet, unter ihnen Edith Cavell.
Ein seltsames Kriegsgericht
Der Geschäftsträger der neutralen USA, Brand Whitlock (Namensgeber eines großen Boulevards in Brüssel), der die britischen Interessen im besetzten Belgien vertrat, erfuhr zunächst nichts von ihrer Verhaftung. Verteidiger hatten keinen Aktenzugang und durften nicht mit ihrer Mandantin und den anderen Angeklagten sprechen. Am 7. September 1915 trat das Kriegsgericht im Saal des Senates in Brüssel zusammen, hier sah Edith Cavell ihren Verteidiger zum ersten Mal. Die Öffentlichkeit war ausgeschlossen. Am 11.Oktober wurde sie wegen Hochverrats („Zuführung von Soldaten in feindliche Länder in der Absicht, dem Feind zu helfen oder den deutschen Truppen zu schaden“) zum Tode durch Erschießen verurteilt.
Nur durch Zufall erfuhr die US-Vertretung von dem Urteil und der bevorstehenden Hinrichtung. Noch am selben Abend wurde den deutschen Stellen ein Gnadengesuch mit der gleichzeitigen Bitte um Aufschub der Hinrichtung vorgelegt, doch der deutsche Militärgouverneur als Gerichtsherr lehnte jeden Aufschub ab.
Der Mediziner Gottfried Benn hatte während seiner Tätigkeit als Pathologe in Berlin seinen ersten Gedichtband veröffentlicht. Zu Kriegsbeginn wurde er eingezogen und nach dem Einmarsch in Brüssel dort als Arzt eingesetzt. Seine Haupttätigkeit war die Gesundheitskontrolle von Prostituierten und die Behandlung von Geschlechtskrankheiten. Mit dem Kriegsgerichtsprozess gegen Edith Cavell hatte er nichts zu tun, aber er tat als Militärarzt Dienst, als Edith Cavell am frühen Morgen des 12. Oktober 1915 zur Richtstätte, dem „Tir National“ in Schaerbeek, gebracht wurde, wo heute die Sender RTBF und VRT ihren Sitz haben. Ein deutscher evangelischer Gefängnisgeistlicher begleitete die Verurteilte auf ihrem letzten Weg. Die beiden Hinrichtungspelotons erschossen sie und den Architekten Philippe Baucq, der ebenfalls zum Tode verurteilt war.
Gottfried Benn drückte ihr die Augen zu
Der diensthabende Arzt Gottfried Benn stellte ihren Tod fest, drückte ihr die Augen zu und legte sie in den Sarg. „Sie war noch während des Kommandos ‚Feuer’ unbezweifelbar tot“, erklärte Benn später. Edith Cavell wurde heimlich beigesetzt. Ihre Hinrichtung rief einen weltweiten Sturm der Entrüstung hervor. Die Meldungen von britischen Kriegsfreiwilligen stiegen sprunghaft an. Die britische Regierung stützte ihre Propaganda wesentlich auf zwei Ereignisse – die Erschießung Edith Cavells und die Versenkung des Passagierschiffes „Lusitania“, bei der auch Cavells Freundin Marie Depage umkam.
Wilhelm II., der über diesen Prozess nicht unterrichtet worden war, missbilligte das Todesurteil. Das Verfahren vor den Kriegs- gerichten wurde geändert: Verurteilte Frauen konnten jetzt Gnadengesuche an die nächste Instanz einreichen, die dann meist dem Kaiser persönlich vorgelegt wurden.
Nach dem Sieg der Alliierten wurde Edith Cavells Leichnam exhumiert, nach England gebracht und an der Kathedrale von Norwich beigesetzt. Alle zwei Jahre gedenkt ihr Heimatort Swardeston im Herbst der „Heldin von Norfolk“. Gottfried Benn, der sich 1917 nach seiner Entlassung aus dem Militärdienst in Berlin als Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten niederließ, reagierte 1928 auf Irrtümer in einem Film über Edith Cavell namens „Dawn“ mit einem detaillierten Zeitungsartikel über die Hinrichtung. Er respektiere Edith Cavell als „die kühne Tochter eines großen Volkes“, schrieb Benn. „Sie hatte als Mann gehandelt und wurde von uns als Mann bestraft. Sie war in den Krieg eingetreten, und dieser Krieg vernichtete sie.“
Jan Kurlemann
Illustrationen: Wikipedia
Der Artikel erschien zuerst im Belgieninfo Magazin 2009.
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