Von Michael Stabenow
Aus deutscher Perspektive mag die wissenschaftliche Befassung mit Belgien etwas exotisch anmuten. Anders ist es, wenn man als Deutscher im Königreich der Flamen und Wallonen wohnt oder dort eine Zeitlang gelebt hat. 250 bis 300 Forschende, so eine Schätzung des in Münster ansässigen „Fachinformationsdienstes Benelux“, dürften sich in Deutschland mit der Geschichte, Philologie, Kultur und anderen Aspekten der Nachbarländer beschäftigt – wohlgemerkt, nicht nur Belgiens, sondern auch der Niederlande und Luxemburgs.
Dass dabei Studien zu Belgien durchaus gut vertreten sind, beweist ein unlängst erschienener Sammelband. Herausgegeben hat ihn der Arbeitskreis Historische Belgienforschung im deutschsprachigen Raum (AHB). Er blickt in diesem Jahr auf sein zehnjähriges Bestehen zurück. Die unter dem Titel „Mit Belgien ist das so eine Sache…“ veröffentlichte Sammlung enthält 17, auch für wissenschaftliche Laien verständlich geschriebene Beiträge zu unterschiedlichsten Aspekten der Geschichte Belgiens (und seines östlichen Nachbarn).
Den Auftakt bildet eine sich vom Mittelalter bis zur Gegenwart erstreckende Betrachtung der sprachlichen Entwicklung in einem Raum, der Teile des heutigen Belgiens, Deutschlands sowie der Niederlande umfasst. Autor ist Winfried Dolderer, früherer Deutschland-Korrespondent der flämischen Zeitung „De Standaard“. Er charakterisiert den Osten Belgiens als „eine Geschichtslandschaft, deren am meisten ins Auge springendes Merkmal ihr historischer und kultureller Facettenreichtum ist“.
Am Ende des Sammelbandes stehen Erkenntnisse sowie Mutmaßungen der Historikerin Ilona Andreas Debes zu einer in einem verlorenen Winkel des Brüsseler Justizpalasts aufgestellten Löwenskulptur. Das aus dem Rahmen fallende Gipsmodell des Bildhauers Léandre Grandmoulin aus dem Jahr 1944 beeindrucke durch eine „drohend-triumphierende Haltung“. Offen lässt Debes, ob die Symbolik des zum Zeitpunkt der Befreiung Belgiens von den nationalsozialistischen Besatzern entstandenen Werks im Triumph über den Feind oder nicht eher in der Idealisierung eines Staates liege, der „seine Bürger das Gesetz wie einen Tyrannen“ fürchten lasse.
Mehrere Autoren setzen sich im zuletzt stark vom Gedenken an die Schrecken des Ersten Weltkriegs geprägten Umfeld mit Teilaspekten des deutsch-belgischen Verhältnisses auseinander. Der Freiburger Historiker Moritz A. Sorge beleuchtet die Rolle transnationaler Monarchien in einer durch zunehmenden Nationalismus gekennzeicheten Zeit – nicht zuletzt anhand des Beispiels der deutschstämmigen belgischen Königin Elisabeth. Wertvolle Einblicke in den im Schloss „Trois Fontaine“ in Vilvoorde vor den Toren Brüssels aufgebauten „Hofstaat“ des deutschen Generalgouverneurs Moritz von Bissing sowie zu der damals ambivalenten Haltung der deutschen Sozialdemokratie bieten die Beiträge von Christoph Roolf, Max Bloch und Sebastian Bischoff.
Durch überzeugende Argumente und eine engagierte Sprache besticht der Beitrag des Berliner Historikers Jakob Müller zum „angeblichen belgischen Franktireurkrieg“. Der Autor räumt darin mit der von der auch zuletzt noch in der Geschichtsschreibung anzutreffenden Erklärung deutscher Greueltaten im Ersten Weltkrieg, nicht zuletzt die Zerstörung Löwens und ihrer altwürdigen Universitätsbibliothek, durch angebliche Kriegshandlungen belgischer Zivilisten („Franktireurs“) auf.
Belege dafür hat Müller beim Studium der ihm vorliegenden Quellen nicht gefunden – allenfalls dafür, dass damals auf deutscher Seite die Überzeugung verbreitet gewesen sei, „von belgischen Zivilisten angegriffen worden zu sein“. Im Einklang mit anderen Mitgliedern des Arbeitskreises historische Belgienforschung sowie belgischen Fachkollegen beklagt Müller einen „Versuch der Renationalisierung des Geschichtsbewusstseins, der die Perspektiven anderer Gesellschaften und Nationen völlig ignoriert.“
Der Sammelband enthält eine Reihe weiterer lesenswerter Artikel – zu den Lebenswegen jüdischer Emigranten aus Österreich in Belgien (Andrea Hurton) oder zum bewegenden Schicksal des im Alter von sechs Jahren 1939 von seinen Eltern in Köln getrennten und nach Belgien gelangten und dort aufgewachsenen Joseph Birenbaum (Adrien Stellmacher/Ännecke Winckel). „Die Hilfsbereitschaft der belgischen Bevölkerung und die Einzigartigkeiten des belgischen Widerstands“ hätten es ermöglicht, etlichen einheimischen wie auch auf der Flucht nach Belgien gelangten jüdischen Kindern das Leben zu retten, schreiben die Autoren.
Die Rolle des ostbelgischen Selbstverständnisses beleuchtet anschaulich der an der Universität Luxemburg forschende und lehrende Historiker Christoph Brüll. Ebenso verständlich ordnet sein zuletzt im Brüsseler Hanse-Office tätige Fachkollege Klaas de Boer die heutige Radikalität der Forderungen flämischer Politiker nach Eigenständigkeit und – zumindest – konföderalen Strukturen historisch ein. Mit der Rolle des von ihm maßgeblich mit aufgebauten „Zentrums für ostbelgische Geschichte“ befasst sich der Regionalhistoriker Carlo Lejeune.
Zwei Beiträge (von Peter Quadflieg sowie von Ilona Riek und Bernhard Liemann) gewähren Einblicke in mögliche Fallstricke belgischer Archive sowie in das Angebot des „Fachinformationsdienstes Benelux“, der mit dem ebenfalls in Münster ansässigen „Zentrum für Niederlande-Studien“ und dem Belgienzentrum an der Universität Paderborn (BELZ) verbunden ist. Auch wer selbst keine wissenschaftlichen Ambitionen im Umgang mit der belgischen Geschichte hegt, kommt bei einem Streifzug durch den vorliegenden facettenreichen Sammelband auf seine Kosten.
Sebastian Bischoff, Christoph Jahr, Tatjana Mirowka, Jens Thiel (Hrsg.), „Mit Belgien ist das so eine Sache…“, Resultate und Perspektiven der Historischen Belgienforschung, 2021, Historische Belgienforschung, Band 9, 224 Seiten, br., 29,90 Euro (in Deutschland); ISBN 978-3-8309-4317-4
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