Von Jürgen Klute.
Seit 1993 gibt es den EU-Binnenmarkt und mit ihm kam die Freizügigkeit aller EU-Bürgerinnen und -Bürger. Freizügigkeit bedeutet, dass alle EU-Bürgerinnen und -Bürger das Recht haben, sich frei innerhalb der EU zu bewegen, in jedem Mitgliedsland wohnen und arbeiten zu können.
Viele Menschen nutzen dieses Recht heute ganz selbstverständlich. Laut Eurostat, dem statistischen Amt der EU, sind es derzeit 3,3% der EU-Bürgerinnen und -Bürger im erwerbsfähigen Alter, also knapp 1,5 Millionen Menschen, die in einem anderen EU-Mitgliedsland leben und arbeiten.
An einem zentralen Punkt hat diese Freizügigkeit jedoch noch immer eine wichtige Unzulänglichkeiten. Die zeigt sich bei Wahlen. An Europa- und Kommunalwahlen kann zwar jede und jeder innerhalb der EU dort teilnehmen, wo er oder sie wohnt. An allen anderen Wahlen aber nicht. Betroffen sind davon auch die vielen in Brüssel lebenden “Expats”. Denn weil die Stadt Brüssel in der politischen Struktur Belgiens als Region Brüssel gilt, kann man hier sein Wahlrecht nur alle 6 Jahre bei den Kommunalwahlen für seinen Stadtteil ausüben. Und das obwohl viele wichtige Entscheidungen für die Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt auf übergeordneter, regionaler, Ebene getroffen werden, zu deren demokratischer Zusammensetzung man sich aber eben nicht via Wahlurne äußern kann. Es gibt verschiedenen Initiativen, sowohl von belgischen Parteien, als auch von anderen Organisationen, die dies bereits seit einiger Zeit zu ändern versuchen. Ihre Bemühungen werden nun durch eine neue Kampagne einer Gruppe junger Europäerinnen verstärkt.
Die Gruppe hat eine Europäische Bürgerinitiative (EBI) gegründet, die sich für ein Wahlrecht ohne Grenzen einsetzt. Am 1. September haben die Initiatorinnen ihre EBI im Press Club Brussels Europe vorgestellt. Nun müssen sie innerhalb eines Jahres eine Million Unterschriften aus mindestens sieben EU-Ländern zur Unterstützung dieser EBI sammeln. Gelingt das, dann muss sich die EU-Kommission mit dem Anliegen der EBI befassen.
Details zu der Bürgerinitiative, wie Ziele, Organisatorinnen, Spendenaufkommen und Informationen zum Prozedere der EBI finden sich im offiziellen EBI-Register der EU-Kommission und auf der Kampagnenwebseite der EBI („Voters without Borders“).
Dort gibt es einen Link auf das elektronische Unterschriftenformular. Wer will, kann aber auch direkt von hier zum elektronischen Unterschriftsformular gelangen.
Es spricht einiges für das Wahlrecht ohne Grenzen. Doch es birgt auch einige Risiken. Die Gesellschaft der „Ureinwohner“ könnte sich in ihrer Gestaltungsmacht bedroht fühlen und zunehmend nach rechts-nationalistisch abdriften. Das passiert bereits bei Kommunalwahlen.
Lange Zeit meiner Jugend habe ich in Wezembeek-Oppem verbracht, einer ländlich flämischen Gemeinde am Rand von Brüssel. Ich war da bei den flämischen Pfadfindern und habe mit den Nachbarskindern gespielt. Doch mit zunehmender Besiedelung mit EU-Bürgern aus dem Ausland haben sich Parallelgesellschaften gebildet, die sich in das flämische Umfeld nicht integriert haben. Inzwischen ist die Mehrheit im Gemeinderat französisch-sprachig ohne Bezug zu den flämischen Wurzeln. Das führt zu Ressentiments – die ich nicht begrüße, aber soziologisch nachvollziehen kann. Zudem wird eine kontinuierliche Entwicklung erschwert, wenn zahlreiche Menschen mit „Übergangswohnen“ jeweils ihre aktuellen Interessen gegenüber den Menschen mit heimatlichen Wurzeln durchsetzen. Diese Risiken gilt es zu bedenken.