Von Angela Franz-Balsen.
Brüssel wird immer „grüner“, das zeigen nicht nur die jüngsten Wahlerfolge von „Ecolo“, sondern auch die seit ein paar Jahren explosionsartig aus dem Boden sprießenden Bioläden und Bio–Märkte, Vollwert-Restaurants und Veggie-Snackbars. Und das eine hängt hier wie andernorts mit dem anderen zusammen.
Als wir vor 10 Jahren als deutsche Bioladen-Kunden nach Brüssel kamen, waren wir schwer enttäuscht: Kein Bioladen weit und breit, einige hoffnungsfrohe Gründungsversuche scheiterten vor unseren Augen. Bei Aufenthalten im Heimatland war Einkaufen im Alnatura-Supermarkt immer ein Highlight. Heute ist das Gefühl, in der Diaspora zu leben, der Begeisterung für die vielen Start-Ups und Netzwerke, die sich um „Good Food“ für Brüssel (www.goodfood.brussels) und gleichzeitig um die Förderung des Ökolandbaus bemühen, gewichen. Allein 99 Geschäfte, 26 Erzeugermärkte, 21 Verteilstellen für Körbe mit Bio-Obst und-Gemüse sowie 30 Restaurants sind inzwischen unter dem Dach von „Bioguide.be“ vereinigt. Das ist ein unabhängiges Informationsportal, das eine Handvoll junger Frauen betreibt, um die Kommunikation zwischen Akteuren und Konsumenten zu erleichtern, die Akteure untereinander zu vernetzen und mit all dem den nachhaltigen Konsum in Brüssel zu fördern.
Das Umweltdezernat von Brüssel (Bruxelles Environnement) bietet ebenfalls ein großes Info-Portal: Good Food Brussels. Unter diesem Logo führt die Stadtverwaltung zudem eine Dauerkampagne zur Förderung des Bio-Angebots in Brüssel, die sehr vielseitig ist und in ein Strategiepapier mündet. Die Strategie zielt unter anderem darauf, Arbeitsplätze zu schaffen und soll bis 2035 dafür sorgen, dass 30% des Brüsseler Bedarfs an Obst und Gemüse lokal und regional erzeugt werden – bei gleichzeitiger Reduzierung von Lebensmittelverschwendung. Kurzfristig führte „Good Food Brussels“ ein Öko-Label für Restaurants ein, bereits 34 Restaurants wurden als „Good Food Resto“ zertifiziert.
Aurelien, Hannah und ihr kleiner Laden
„Good Food Brussels“ und etliche andere Akteure beraten und begleiten die meist jungen Leute, die es wagen, ihre berufliche Zukunft mit dem Wunsch nach gesunder Ernährung und nachhaltigem Schutz der natürlichen Ressourcen zu verknüpfen. So war es auch bei Aurelien und Hannah und ihrem „Roots Store“ im EU-Viertel, dessen Geschichte zeigt, wie solches Engagement von Anwohnern honoriert wird.
Es begann vor zwei Jahren in einem winzigen Eckladen, dessen Schaufenster ungelenke Botschaften auf Pappschildern von Aurelien und Hannah zeigten. Der Franzose und die Engländerin wollten eine kleine Direktvermarktung aufbauen und in geschlossenen Kreisläufen ohne Abfälle arbeiten. Zunächst wurden Obst und Gemüse in kleinen Mengen bereitgestellt. Schaut man heute durch das Schaufenster, so sieht man einen Laden mit großer Angebotspalette, der richtig was hermacht, und seit zwei Wochen steht davor auf dem Bürgersteig eine originelle Holzstruktur zum Herstellung von Kompost aus dem Bio-Abfall der Kunden. Hannah strahlt, wenn sie die Kunden jetzt auch mit Käse und anderen Frischwaren bedient, denn das Geschäft läuft rund für sie, Aurelien und die 16 sorgfältig ausgesuchten Lieferanten der Produkte. Selbst „Le Soir“ berichtete über den kleinen Laden mit dem großen Anspruch.
Bio-Supermärkte und Bio im Supermarkt
Von ganz anderem Kaliber sind Supermärkte wie „färm“, die mit ihrem breiten Angebot fast alle Haushaltsbereiche abdecken und mit Convenience-Food für gehobene Ansprüche locken. Der entscheidende Unterschied zu den klassischen Supermärkten ist bei der expandierenden färm-Kette das Geschäftsmodell einer Kooperative, die die sozialen und ethischen Gesichtspunkte von Nachhaltigkeit betont, beispielsweise faire Preise für die Erzeuger. Konsumenten haben die Möglichkeit gibt, „Cofärmer“ zu werden, das heißt, Geschäftsanteile zu erwerben und so die Unabhängigkeit des Projekts von handelsüblichen Versorgungsketten zu garantieren.
Die großen Handelsketten wollen sich die Teilhabe am Bio-Boom natürlich nicht entgehen lassen. Colruyt punktet schon seit Jahren mit einer großen Auswahl an Bio-Weinen, und Carrefour startet gerade durch mit der länderübergreifenden Kampagne „Act for Food“, mit der sie eine führende Rolle in Sachen Ernährungswende anstreben (https://actforfood.carrefour.eu/fr/nos-engagements).
Entwicklung im Zeitraffer
Was in Deutschland seit den 70er Jahren über Jahrzehnte gewachsen ist, wurde in Belgien im Zeitraffer innerhalb weniger Jahre nachgeholt: In den vergangenen 7 Jahren sind mehr als die Hälfte der aktuellen Direktvermarktungsstellen aus dem Boden geschossen, so eine Studie von Bruxelles Environnement, in der von einem „boum“ die Rede ist. Große Bedeutung hat im Bio-Handel jetzt schon das Online-Geschäft mit Lieferservice (sieben große Anbieter). Laut einer Studie der Beratungs- und Entwicklungsagentur „Atrium.Brussels“ hat sich die Anzahl der Bio-Märkte in den vergangenen fünf Jahren verdreifacht.
Bei der Analyse dieser Entwicklung dürfen Unterscheide in den sozialen Milieus nicht außen vor gelassen werden. Die einzigen Stadtteile, in den sich wenig regt oder gar nichts tut, sind Laeken, Evere und Saint-Josse, während es in Ixelles schon fast ein Überangebot gibt. Dazu passen die Ergebnisse der Konsumforschung ab 2000, die die Konsumentengruppe der sog. LOHAS (Lifestyles of Health and Sustainability) ausgemacht hat. Die als LOHAS bezeichneten Personen pflegen einen Lebensstil, der von Gesundheitsbewusstsein und gleichzeitiger Ausrichtung nach Prinzipien nachhaltiger Entwicklung geprägt ist. Bildungsstand und Einkommen sind eher überdurchschnittlich. Und hier kommt der Ringschluß zu den überraschenden Wahlergebnissen vom 14. Oktober 2018: Sowohl für Brüssel (Le Soir, 15.10.2018) wie für München (Süddeutsche Zeitung, 20./21.10.2018) stellen führende Medien eine Verbindung her zwischen dem gewandelten Ernährungs- und Konsumverhalten bestimmter Altersgruppen und Milieus und den Wahlerfolgen den GRÜNEN (Zitat SZ „München isst grün“). Wer als Konsument/in weder Kosten noch Mühen scheut, einen Beitrag zum Erhalt des Planeten zu leisten, dem fällt es schwer, Politiker zu wählen, die nicht an morgen denken. Das Fazit macht Hoffnung: Wir haben die Wahl, an der Urne wie beim Einkaufen, jetzt auch in Brüssel.
Roots-Store, Geschichte
https://www.lesoir.be/98366/article/2017-06-06/roots-store-circulaire-il-ny-rien-perdre
Und die Grünen denken mehr an die Zukunft als die anderen? Wie naiv!