Gerlinda Swillen ist eine Lobbyistin, auch wenn sie diesen Begriff bei ihren unzähligen Vorträgen und Demarchen nicht verwendet. Was nicht heißt, dass sie nicht modern wäre, im Gegenteil: sie war aktiv bei den freigeistigen Frauen und muss wohl eine überzeugte Feministin sein, passender wäre Humanistin: das Recht, den Vater zu kennen, ist für Frau Swillen ein Menschenrecht, für das sie sich international einsetzt; das tut sie auf einem bestimmten Gebiet: dem der Kriegskinder.
Es ist ein Begriff, der seit einem Workshop 2008 an der Universität von Birmingham eine neue Dimension erfährt: Kriegskinder sind Kinder, die ohne den Krieg nicht geboren wären, egal welcher Nationalität der Vater und die Mutter sind. Diese Definition wurde übernommen durch das Internationale Kriegskinder-Netzwerk BOW i.n. (Born of War international network), dessen Sprecherin Frau Swillen ist.
Die Definition dieser Kinder war der erste Schritt und eine wichtige Voraussetzung. Frau Swillen, selbst ein Kriegskind, Tochter einer belgischen Mutter und eines deutschen Vaters, macht jetzt einen weiteren Schritt. Sie verhilft diesen Kriegskindern zudem ihr Leben bewusster zu leben, indem diese auf sie zugehen und, nicht selten mit einem großen Gefühl innerer Befreiung, einen neuen Blick auf ihre Geschichte werfen als Menschen mit einer eigenen politischen und geschichtlichen Identität.
Späte Anerkennung
Bis Ende 2007 hat es gedauert, bevor die Historiker des Zweiten Weltkrieges die Existenz der Kriegskinder in Belgien entdeckten. „Im Gegensatz zu den Forschern in den anderen vom Dritten Reich besetzten Gebieten, die sich mehr um das Schicksal der Kriegskindermütter gekümmert haben, wird seither in Belgien das Leben der Kinder betont, die fast alle außer- oder wie es jahrzehntelang hieß, unehelich geboren wurden”, stellt die dynamische Menschenrechtlerin nicht ohne Befriedigung fest. Zusammen mit dem Studien- und Dokumentationszentrum für Krieg und zeitgenössische Geschichte in Brüssel startete sie eine Pressekampagne. Seitdem hat Frau Swillen sich bereits hundertfach als Gesprächspartnerin und als Motor der Selbstemanzipierung von Kriegskindern aus ganz Belgien bewährt.
Parallel begann Frau Swillen zu forschen: in den Archiven der belgischen Staatsarchive. Spuren der Kriegskinder und der rechtlichen Stellung dieser Kinder und deren Mütter findet sie vor allem in den Archiven der Friedensgerichte. Besonders interessant erwies sich ihre Suche im Staatsarchiv in Eupen, der Eupener Staatsarchivarin Els Herrebout zufolge nicht ohne Grund: „An der Grenze zum Deutschen Reich, wozu die Kreise Eupen und Malmedy bis 1920 und während der Kriegsjahre gehörten, fand Frau Swillen, neben den belgischen Friedensgerichtsakten auch die Akten der reichsdeutschen Amtsgerichte.
Quasi im Zeitraum einer Generation erlebte die Bevölkerung dreimal eine Änderung der Rechtspflege. Dies erlaubte Frau Swillen das belgische Rechtssystem mit dem reichsdeutschen zu vergleichen“. Und der Vergleich hat sich gelohnt. Sie stieß auf wichtige und bisweilen fundamentale Unterschiede: so verpflichtete das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch den Vater des unehelichen Kindes „dem Kinde bis zur Vollendung des sechzehnten Lebensjahrs den der Lebensstellung der Mutter entsprechenden Unterhalt zu gewähren“. Demzufolge mussten die Behörden den Vater suchen und ihn zur Vaterschaftsanerkennung drängen. In Belgien dagegen war die Vatersuche gesetzlich nur ausnahmsweise möglich, das belgische Gesetz legte vielmehr den Friedensrichtern auf, einen Familienrat zu bilden, mit Blick auf eine Vormundschaft.
Durch Pressekonferenz ermutigt
Die Eupener Akten ließen zudem auf zahlreiche Kriegskinder in Ostbelgien schließen. Aus diesem Grund startete Frau Swillen jetzt einen Aufruf an die deutschsprachigen Kriegskinder, zusammen mit dem Staatsarchiv. Seit der Pressekonferenz in Eupen haben sich schon verschiedene von ihnen zu Wort gemeldet, ermutigt vielleicht auch durch die Präsenz einer ganzen Reihe von Schicksalsgenossen, die sich nicht gescheut hatten, vor den Mikrofonen und Kameras von Funk und Fernsehen oder den Journalisten Zeugnis abzulegen.
Mit ihren Erfahrungen insbesondere aus der euregionalen ostbelgischen Region fühlt Frau Swillen sich jetzt gewappnet für den nächsten Schritt: ihrem Projekt einen wahrhaft europäischen Rahmen zu geben. Zusammen mit dem internationalen Kriegskinder-Netzwerk möchte sie dem Kriegskinderprojekt neben der gesellschaftlichen Anerkennung auch zu einer politischen Dimension verhelfen, entsprechend der Charta der Kinderrechte – auch wenn diese Kinder inzwischen graue Haare haben. Sie fordert alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union auf, die Initiative zu ergreifen, um eine ‚Kriegskinder/Besatzungskinder’-Konvention zuwege zu bringen, wobei das Recht auf Schutz für Mutter und Kind und das Recht auf eine biologische Identität für jedes Kind festgeschrieben werden sollten.
Warum ihr dieser nächste Schritt so wichtig ist, erklärte Frau Swillen am Ende ihrer Pressekonferenz in Eupen: „Kriegskinder wird es immer geben, ob bei Kriegen oder bei Friedenseinsätzen, ob Vietnam, Kosovo oder Afghanistan, wenn die Truppen das Gebiet des Einsatzes verlassen haben, hat das Kind das Recht zu wissen, wer sein Vater ist.”
Els Herrebout
Els Herrebout ist Leiterin des Staatsarchivs in Eupen
Zuerst veröffentlicht am 15. Dezember 2011
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