Wenn Sie als belgischer Staatsangehöriger in Brüssel wohnen und im Besitz eines flämischen Hochschulabschlusses sind, dann scheint die Chance sehr groß, dass Sie eines Tages dran sind: als Wahllokalvorsitzender. Die Kandidaten sind an diesem Tag auch von frühmorgens bis spät in die Nacht auf, unter Hochspannung, und am Ende feiern die einen, während die anderen weinen. Nicht so die Wahllokalvorsitzenden, -schriftführer und Beisitzer: Für sie gilt kühle Bürgerpflicht von sechs Uhr morgens bis Mitternacht.
Der Brief kam etwa einen Monat vor den Wahlen. Mich zu drücken, kam mir nicht in den Sinn. Das will man doch gerne mal erlebt haben. Zwei Wochen vor den Wahlen war im Kommunalamt meines Stadtbezirks eine Informationsveranstaltung für Wahllokalvorsitzende und -schriftführer anberaumt. Ohne meinen Berufungsbrief oder meinen Personalausweis vorzulegen, bekam ich einen Umschlag mit Wählerlisten und Anweisungen. Es herrschte Vertrauen. Oder man war froh, dass überhaupt jemand kommt. Ich lernte die mir zugewiesene Schriftführerin kennen, Leila, eine junge und optimistische Kommunalbeamtin, die mir an Jungfräulichkeit in Wahlangelegenheiten nicht nachstand.
Das Übliche
Optimismus erwies sich als willkommene Eigenschaft: Die Informationsveranstaltung war chaotisch, die Anweisungen etwas unklar. Das Wahlverfahren wurde nicht chronologisch beschrieben. Was in einer Anweisung so hieß, trug auf einem anderen Blatt plötzlich einen anderen Namen. Das Demo-Video zeigte Parlamentswahlen, also ein anderes Wahlverfahren als das, was wir zu begleiten hatten. Nicht alle „zweisprachigen“ Teilnehmer verstanden Niederländisch. Das Übliche. Beruhigend war, dass die meisten ratlos waren. Meine Schriftführerin und ich merkten uns dankbar, dass am Tag der Wahl jedem Wahllokal ein Technikerteam zur Verfügung stehe, und wir beschlossen, uns keine Sorgen zu machen.
Vorsitzender und Schriftführer haben sich am Tag der Wahl um 7:30 Uhr in ihrem Wahllokal einzufinden, um ab 7:45 Uhr die Beisitzer zu empfangen, alle zu vereidigen, Aufgaben zu verteilen, den Vorsitzenden-PC sowie die Wahlmaschinen einzuschalten, eine Kontrollwahl vorzunehmen und die Wahlurne (nachdem alle festgestellt haben, dass sie leer ist) so zu versiegeln, dass die elektronischen Wahlkarten nur noch hinein-, aber nicht mehr herauskönnen. Ab 8 Uhr erhalten die Wähler Einlass.
Wahlgeheimnis
Zum Glück waren Leila und ich, sowie übrigens unsere vier Beisitzerinnen (darunter eine Mutter und ihre achtzehnjährige Tochter, die sich beide freiwillig gemeldet hatten) schon kurz vor sieben Uhr vor Ort. Nachdem wir alle den amtlichen Eid geleistet hatten, „die Stimmen ehrlich zu zählen und das Geheimnis der Wahl zu bewahren“, stellten wir bei der Kontrollwahl fest, dass eine Maschine nicht funktionierte. Die ersten Wähler warteten schon, wir warteten auf den Techniker, der auch andernorts verlangt wurde. Kurz vor neun Uhr waren alle Probleme behoben und nun konnten endlich die ersten Wähler hereingelassen werden. Sie zeigten sich verständnisvoll, man ist es gewohnt, dass in diesem Land nicht alles reibungslos funktioniert.
Bis zum Wahlschluss um 16 Uhr läuft alles dann relativ glatt von der Bühne. Die erste Beisitzerin empfängt jeden Wähler in seiner Sprache, die zweite überprüft Personalausweis und Wahlbenachrichtigung und hakt den Namen in ihrer Wählerliste ab, die dritte überreicht dem Wähler eine Magnetkarte, die Schriftführerin trägt besondere Vorkommnisse ins Protokoll ein. In einer der sechs Wahlkabinen unseres Lokals steckt der Wähler seine Magnetkarte in die Maschine. Der Wähler macht sein Ding, danach wird sofort die Karte wieder ausgespuckt, und er schiebt sie vor aller Augen in die Urne, bekommt seinen Ausweis und die abgestempelte Benachrichtigung zurück und verlässt den Raum.
Der 17. Kandidat
Und was tut der Wahllokalvorsitzende? Er validiert Magnetkarten und regelt die „besonderen Vorkommnisse“. An diesem Tag wählen 656 Personen (von den 797, deren Namen auf unseren Listen stehen), etwa fünfzig von ihnen brauchen Hilfe, oft technische, aber nicht nur. Das bedeutet, dass man sie in die Wahlkabine begleiten muss. Viele sprechen nur gebrochenes Französisch oder Niederländisch, es ist manchmal sehr schwierig zu verstehen, wen sie wählen wollen. Eine Dame fragt mich, als wir beide allein in der Wahlkabine sind, wen sie wählen soll. Ich sage, dass ich vereidigt bin und die Wähler in keiner Weise beeinflussen darf. Sie will nicht blanko wählen und entscheidet sich für den siebzehnten Kandidaten der ersten Liste, aber es hätte auch jeder andere sein können.
Unter den Dokumenten, die uns von Anfang an mitgeliefert wurden, befinden sich ärztliche Bescheinigungen für alle Insassen eines benachbarten Altersheims. Wir müssen alle Namen und Adressen in eine Liste von Nichtwählern eintragen, aber eine 98-jährige Dame erscheint doch, im Rollstuhl, von ihrer Tochter geschoben. „Das Altersheim-Personal war mit den ärztlichen Bescheinigungen etwas übereifrig, meine Mutter will wählen“, sagt die Tochter. Ich sage der Tochter, dass sie ihre Mutter zwar in die Wahlkabine begleiten dürfe, allerdings nur für eine Hilfestellung physischer Art (das Rollstuhl-Schieben), für technische Hilfe sei ich zuständig. „O, machen Sie sich mal keine Sorgen, ich weiß, wie es geht, und ich weiß genau, wen ich wählen will“, antwortet die 98-Jährige. Ihre Tochter und ich brechen in Lachen aus, und ich gratuliere der alten Dame ob so viel munterer Bürgertugend.
Zweisprachigkeit
Nach Lachen ist einem Paar mittleren Alters nicht zumute. Sie beschweren sich darüber, dass hier nichts auf Niederländisch stehe und dass man keine flämischen Listen wählen könne. Daran stimmt so viel, dass wir uns im Gebäude einer französischsprachigen Schule befinden. Alle Anweisungen, die sich auf die Wahl beziehen, sind aber zweisprachig. Und niederländischsprachige Listen kann man hier natürlich wählen, insofern sie in unserer Gemeinde vertreten sind und zur Wahl antreten. Das sind mindestens drei. Dass in unserem sechsköpfigen Wahlbüro zwei Beisitzerinnen und der Vorsitzende ebenfalls niederländischsprachig sind, kann das wütende Paar nicht umstimmen. Vermutlich hatten sie bereits vor dem Betreten des Schulgebäudes beschlossen, sich über die Diskriminierung von Flamen in Brüssel zu beschweren. Sie verlassen das Wahllokal, und ich muss von meiner Polizeigewalt keinen Gebrauch machen – zum Glück den ganzen Tag nicht.
Nach Wahlschluss um 16 Uhr dauert es noch gut zwei Stunden, bis alles in Sack und Tüten ist: Die Listen müssen überprüft, ergänzt und zusammen mit den Disketten in versiegelte Umschläge gesteckt, die Maschinen ausgeschaltet werden usw. „Meine“ Beisitzerinnen und „meine“ Schriftführerin haben tüchtig gearbeitet. Ich danke ihnen für ihre Effizienz und entlasse sie in die Freiheit. Mein Tag ist noch nicht zu Ende. Ich muss mit meiner kostbaren Fracht noch zum Bezirksamt – zu Fuß. Zum Glück habe ich es nicht weit, etwa 800 Meter. Aber was macht man, wenn der Weg länger ist? Kann es wirklich sein, dass die Vorsitzenden all diese wichtigen Dokumente zu Fuß, sozusagen als Spaziergang, selbst zu transportieren haben? Und dabei wurde noch nie einer überfallen? Ich hatte mir die Sache etwas förmlicher vorgestellt.
Abwicklung
Andere Büros haben nicht so tüchtig gearbeitet, die Wartezeit im Bezirksamt ist lang. Weil mein Team so gewissenhaft war, bin ich als letzter Wahllokalvorsitzender im Bezirksamt angekommen. Das bedeutet, dass ich als Letzter an die Reihe komme – und, weil die Arbeit korrekt ausgeführt wurde, dass ich bei der nächsten Wahl wahrscheinlich „noch einmal darf…“. Als ich endlich dran bin, loben alle Mitglieder des Hauptbüros unsere Arbeit. Die Abwicklung dauert nicht einmal zehn Minuten. Alle sind müde, und die Vorsitzende des Hauptbüros sagt im Brüsseler Dialekt: Allei, de lesten is de beste (Na, der Letzte ist der Beste)! Kurz vor Mitternacht bin ich zu Hause.
Von Philipp Bekaert
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