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Eine junge Abgeordnete und die alten Dämonen

Kattrin Jadin-Eupen-Select_jpeg-3Chaotische Szenen im Brüsseler Parlament: Kehrt die Nachkriegszeit zurück?  Noch ehe die neue belgische Regierung in der Nacht zum Freitag die Vertrauensabstimmung gewonnen hatte, erhielt ihr Verteidigungsminister Steven Vandeputte Post aus Eupen. Die liberale Abgeordnete Kattrin Jadin bat ihn um eine Intervention zu Gunsten des bald 90jährigen Ludwig Hagemann, der als 15jähriger eine kurze Zeit der Hitler-Jugend angehört hatte und deshalb bis zum heutigen Tag ohne seine bürgerlichen Ehrenrechte leben muss. Im Jahr 1947 war der Zwangssoldat zur deutschen Wehrmacht zu einer Gefängnisstrafe, zu fünf Jahren polizeilicher Überwachung und einem lebenslänglichen Verlust der Bürgerrechte verurteilt worden. Alle bisherigen Versuche, dieses Unrecht wieder gut zu machen, schlugen fehl.

Die ehemaligen preußischen Kreise Eupen-Malmedy waren nach dem Versailler Vertrag Belgien zuerkannt worden und am 10. Mai 1940 beim deutschen Einmarsch „heim ins Reich“ geholt worden. Nach Ende des 2. Weltkrieges setzte in den so genannten „Ostkantonen“ eine heftige belgische Säuberungswelle ein. Hunderte „Landesverräter, Kollaborateure und Unbürgerliche“ wurden inhaftiert und mit Berufsverboten bestraft. Einem mit absoluter Mehrheit gewählten Eupener Bürgermeister verweigerte der Innenminister noch Mitte der 60er Jahre die Ernennung. Dem Fußballer Ludwig Hagemann wurde sogar untersagt, weiter für seinen Verein AS Eupen zu spielen…

Gift und Galle

Die 34jährige deutschsprachige Abgeordnete hätte sich nicht träumen lassen, dass ihre Initiative, gleich zu Beginn der Amtszeit den zuständigen Minister auf den skandalösen Fall aufmerksam zu machen, mit chaotischen Zwischenfällen im Abgeordnetenhaus zusammen fiel. Dabei standen kurioserweise ebenfalls die Kollaboration und ein 90jähriger im Mittelpunkt. Anlass war der Geburtstag des betagten ehemaligen Volksunie-Senators Bob Maes, an dem letztes Wochenende auch der neue Staatssekretär Theo Francken (Flämische Nationalisten, N-VA) teilgenommen hatte. Maes gilt als ehemaliger Kollaborateur mit den deutschen Besatzern und Förderer extremistischer flämischer Kreise. Der „orchestrierte Tumult“ der Opposition (so Kattrin Jadin im Grenz-Echo-Interview) richtete sich auch gegen den neuen Innenminister Jan Jambon (N-VA), der über flämische Deutschtümler gesagt hatte, diese hätten „wohl ihre Gründe gehabt“. Damals ging es um die Stärkung der „flämischen Bewegung“ im frankophon dominierten Staat. In der Wallonie und in Brüssel agitierte unterdessen der NS-Fanatiker Léon Degrelle, ein persönlicher Vertrauter Hitlers, der 1937 nur durch einen Hirtenbrief von Jozef-Ernest Kardinal van Roey von der Macht fern gehalten werden konnte.

Der liberale Premier der Mitte-Rechts-Koalition, Charles Michel, wurde letzte Woche minutenlang daran gehindert seine Regierungserklärung abzugeben. Vor allem die ehemalige sozialistische Justizministerin Laurette Onckelinx spuckte Gift und Galle und forderte, trotz Entschuldigung von Francken, weiter dessen Rücktritt. Der christlich-humanistische Fraktionssprecher Benoît Luttgen warf der Mehrheit pauschal „Kollaboration“ vor. Die Sitzung musste zeitweise unterbrochen werden. Nur der flämische Sozialist und ehemalige Wirtschaftsminister Johan Vande Lanotte blieb besonnen: „Wenn sich jemand entschuldigt, muss man so großmütig sein und die Entschuldigung anzunehmen“.

Durchs Feuer

Hintergrund der Zwischenfälle ist die Bildung der belgischen Regierung unter Einschluss der N-VA des Antwerpener Bürgermeisters Bart De Wever, die aus den Wahlen als Sieger hervor gegangen war. Erstmals seit drei Jahrzehnten sitzen die Sozialisten in der Opposition. Die frankophonen Liberalen PRL sind die einzige wallonische Partei der Regierung. Ihr gilt dann auch der massive Vorwurf der Linken, Verrat geübt und den flämischen Nationalisten die Schlüsselposten Inneres, Verteidigung und Sicherheit überlassen zu haben, so als planten diese in Kürze einen Staatsstreich.

Die N-VA, deren Fernziel eine Konföderalismus mit einem eigenständigen Flandern ist, haben für die kommenden fünf Jahre auf institutionelle Reformen verzichtet. Einschneidende wirtschaftlich-soziale Reformen stehen im Mittelpunkt. Dennoch drohen neue flämisch-wallonische Konflikte, zu befürchten sind gar weitere Dämonisierungen wie in der Nachkriegszeit. Die NVA in Flandern, die Sozialisten in der Wallonien, das kleine Land scheint gespaltener denn je. Schon wurde für die Zeit vor Weihnachten der Generalstreik ausgerufen. Der jüngste Premierminister der belgischen Geschichte muss zwischen den Fronten durchs Feuer.

Freddy Derwahl

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