Von Margaretha Mazura.
Wenn es abends früher finster wird, wenn die Erinnerungen an den Sommer mit der Zeitumstellung endgültig verraucht sind, wenn der Nieselregen einsetzt und die Nässe allen in die Knochen fährt, ist der 1. November nicht weit. Der 1. November als Gedenktag aller Heiligen in der katholischen Westkirche wurde von Papst Gregor IV. 835 eingeführt (die Ostkirche feiert ihn am ersten Sonntag nach Pfingsten). Damit auch den im Fegefeuer schmachtenden Seelen, die noch nicht die himmlischen Gefielde der Heiligen erreicht haben, gedacht werden kann, wurde der 2. November als Allerseelen dazugestellt (ab dem 10. Jahrhundert).
In Europa ist es ein weitverbreiteter Feiertag, der dem Wetter und Anlass entsprechend ernst und traurig ist. In Deutschland wird er in den katholischen Bundesländern wie Bayern als “stiller Feiertag” begangen, an dem keine Tanzveranstaltungen und keine laute Musik erlaubt sind. Allerdings ist ihm in der Liturgie die Farbe Weiss zugeteilt, die Farbe der Reinheit und Freude: Man freut sich mit den Heiligen über deren Fürbitten im Himmel.
Das für Europäer fremde Halloween, das wir aus den USA (re)importiert haben und dessen orange-schwarze Auswüchse mit Hexenhut, Kürbis und Spinnweben in allen belgischen Supermärkten zu finden sind, hatte ursprünglich auch religiöse Wurzeln: Am Vorabend von Allerheiligen feierte die anglikanische Kirche “All Hallows Eve” (Aller Heiligen Vorabend). Das wurde von Emigranten nach Amerika exportiert und daraus wurde später das Wort “Halloween”, mit recht heidnischem Charakter.
Nicht überall ist der 1. November ein trauriges Fest. Als “Día de los muertos” (Tag der Toten) feiert ihn Mexiko mit fröhlichem Überschwang: man veranstaltet Picknicks auf den Familiengräbern, stellt Früchte und Räucherstäbchen auf einen improvisierten Altar im Haus auf, vor das Bild der verstorbenen Familienmitglieder und kocht deren Lieblingsgerichte: Denn am 2. November kehren die Toten in das Haus der Familie zurück, wie Frieda Kahlo in ihrem Tagebuch berichtet. Bilder mit „La Catrina“ (einem weiblichen, bekleideten Skelett) werden an die Wand gehängt, und Zuckertotenköpfe an die Kinder verschenkt. Die Tradition des Totengedenkens stammt bereits aus der präkolumbianischen, vorschristlichen Zeit, wo man die Totenschädel der Ahnen zu Hause aufbewahrte und an den Gedenktagen (es gab mehrere) hervorholte und ehrte. Heute sind die „calaveras“ allerdings nur mehr aus Zuckerguss.
Friedhöfe sind ein phantastischer Ort der Kultur eines Volkes. Moosbewachsene Grabsteine auf englischen Kirchhöfen, kabbalistische Zeichen auf jüdischen Gräbern, aneinandergereihte Mausoleen wie Totenstädte in Buenos Aires – die Vergangenheit ist auf Friedhöfen allgegenwärtig. Auch in Brüssel. Sehr alte Grabstätten sucht man allerdings vergebens. Die meisten Friedhöfe wurden in ihrer jetzigen Form im 19. Jahrhundert angelegt. Bestattungen rund um Kirchen wurden 1784 von Joseph II., dem Habsburger, der damals über die österreichischen Niederlande herrschte, aus hygienischen Gründen verboten.
Dornröschenschlaf der Ewigkeit
Nach der Unabhängigkeit Belgiens wurden Friedhöfe nach Glaubensbekenntnis getrennt abgeschafft und die Verwaltung säkularisiert. Daher findet man auf einem der ältesten und schönsten Friedhöfe Brüssels in Diegem christliche und jüdische Gräber nebeneinander, wild überwachsen, im Dornröschenschlaf der Ewigkeit. Auch die Literatur nahm sich der Begräbnisstätten an, wie Emile Verhaerens Gedicht: „…und es beginnt das langsame Defilé der Leichenzüge, mit ihren knirschenden Scharnieren und jähen Aneinanderstossen der Waggons – und der Särge“. Er spielt dabei auf die Straßenbahn an, die 1818/19 direkt auf den Friedhof von Evere fuhr und nicht nur Besucher, sondern auch die Särge transportierte.
Neben Totengedenken und Romantik kann man auf Brüssels Friedhöfen aber auch eine Prominententour unternehmen. Nicht so bekannt wie der Pariser Père Lachaise oder der Prager jüdische Friedhof, warten dennoch diese Totenäcker mit interessanten Celebrities auf:
Laeken: Rodins „Denker“ (eine von den 20 Originalstatuen) wacht über den Gräbern. Das Mausoleum der Sopranistin Maria Malibran steht dort, Star der „Monnaie“, die jung nach einem Sturz vom Pferd in Belgien verstorben ist; und das Grab von Michel de Crayencour, den kaum jemand kennt. Er war der Vater von Marguerite Yourcenar, deren Künstlername das Anagramm seines Namens ist. Weiters der symbolistische Maler Fernand Khnoppf und der Dramatiker Michel de Ghelderode.
Schaerbeek: Hier ruht in einem einfachen Grab der wohl bekannteste Belgier, René Magritte.
Ixelles: Charles de Coster („Vater“ Till Eulenspiegels), Victor Horta (Jugendstil-Architekt), der Maler und Bildhauer Antoine Wiertz, der deutsche Dramatiker Carl Sternheim, der symbolistische Schriftsteller Camille Lemonnier, Eugène Issaye, Komponist und Violonist aus Lüttich, sowie Delhaize, der Gründer der gleichnamigen Supermarktkette.
Dieweg/Uccle: Auch hier finden sich, inmitten einer überwachsenen Romantik neben alten jüdischen Grabsteinen, Berühmtheiten wie Hergé (der Tim und Struppi erfand) oder auch der Jugendstil-Architekt Paul Hankar (dessen nie realisiertes Projekt der „Stadt der Künstler“ unter anderen die Wiener Sezession beeinflusste). Hier auf diesem Friedhof, fast will man das Wort „verwunschen“ im Sinne von „verzaubert“ verwenden, fühlt man die Worte Thomas Bernhards „Nach Thymian und Tod roch die Erde“. Ein sanftes Memento Mori, wie ein barockes Tödlein.
Wer den verstorbenen Mitgliedern des belgischen Königshauses seine Ehre erweisen will, kann die Königliche Krypta in der Kirche „Unsere Gute Frau von Laeken“ besuchen:
Öffnungszeiten: 1. November 14-17 Uhr, sonst oft am ersten Sonntag des Monats. Genaue Daten:
https://www.monarchie.be/de/kulturerbe/konigliche-krypta-von-laeken
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