Belgien ist von Streiks geschüttelt. In den vergangenen Wochen wurde umschichtig im ganzen Land die Arbeit niedergelegt, zuletzt am Montag, dem 8. November, in Brüssel sowie in den Provinzen Flämisch- und Wallonisch-Brabant. Für Montag, den 15. Dezember haben die Gewerkschaften den Generalstreik ausgerufen. Sie protestieren gegen die Sparpolitik einer N-VA-gelenkten Regierung, die vor allem die Kleinverdiener zur Kasse bittet. Und im Antwerpener Rathaus sitzt der „Schattenpremier“ Bart De Wever und wartet, bis der Regierung die Luft ausgeht.
Belgiens neuer Mitte-Rechts-Regierung bläst der Wind ins Gesicht. Der Rechnungshof, Belgiens oberster Finanzhüter, hat dem Haushalt 2015 die Note sechs erteilt. In seinem Gutachten von Ende November weist er der Regierung Rechenfehler in Höhe von 322 Millionen Euro nach: Insgesamt spekuliere die Regierung auf Ausgabenkürzungen und neue Einnahmen, die rechnerisch nicht zu belegen seien.
Gespart wird am Justiz- und Verteidigungswesen, durch einen Stellenabbau im öffentlichen Dienst und durch eine Kürzung praktisch aller Sozialleistungen. Zu bezweifeln ist, ob dadurch eine gigantische Staatsverschuldung abgebaut werden kann. Die Frage ist auch, ob die Unternehmen das Geld, das nächstes Jahr durch ein Einfrieren der Löhne freikommen soll, tatsächlich in neue Produktionsanlagen und Mitarbeiter investieren. Die Regierung hoffte auf die Schaffung von 120 000 neuen Arbeitsstellen innerhalb weniger Jahre. Für den Rechnungshof sind es höchstens 30 000 – sofern die Unternehmen das Geld nicht woanders investieren, möglicherweise im Ausland.
Das alles ist Wasser auf die Mühlen der roten und grünen Oppositionsparteien. Sie sind sowieso bis aufs Blut gereizt, nicht zuletzt wegen der arroganten Haltung des unerfahrenen neuen Parlamentspräsidenten Siegfried Bracke (N-VA), der bei Parlamentssitzungen kaum Hemmungen hat, unliebsamen Rednern im Parlament das Mikrofon abzuschalten. Am 4. Dezember richteten Abgeordnete der Parti Socialiste eine Anfrage an den liberalen Premier Charles Michel. Sie bezog sich auf die Tatsache, dass Innenminister Jan Jambon (N-VA) 1996 bei einem Vortrag von Jean-Marie Le Pen anwesend war und mit ihm an Ehrentisch saß. Michel weigerte sich, zu antworten. Daraufhin verließen sämtliche grünen und sozialdemokratischen Abgeordneten den Plenarsaal. Ein unerhörter Eklat im belgischen Parlament.
Nicht anwesend war wieder einmal N-VA-Chef Bart De Wever, Antwerpens Bürgermeister und Dirigent von drei föderalen Ministern sowie von zwei Staatssekretären auf entscheidenden Posten. Er gibt sich unabkömmlich in der Scheldestadt und bleibt mithin unangreifbar. Dafür trat er vergangene Woche zusammen mit Premier Michel vor dem flämischen Arbeitgeberverband VOKA auf. Er schob die Unruhen in Belgien „der Opposition, einigen Journalisten und den Gewerkschaften“ in die Schuhe. Seine Rede wurde von den versammelten Unternehmern mit Standing Ovations aufgenommen.
In der Zwischenzeit werden klammheimlich zahlreiche öffentliche Ämter in Belgien mit N-VA-Mitgliedern besetzt. Schon heute haben flämische Nationalisten führende Posten unter anderem an der Universität Gent, bei der Nahverkehrsgesellschaft De Lijn, der öffentlich-rechtlichen Fernseh- und Rundfunkanstalt VRT oder beim flämischen Arbeitsamt inne. Wobei ausgerechnet die N-VA im Wahlkampf gegen die Vergabe öffentlicher Ämter nach politischen Gesichtspunkten, sprich gegen Vetternwirtschaft gewettert hatte.
In Einem sind sich Freund und Feind in Belgien einig: Als „Schattenpremier“ zieht De Wever die Fäden in der belgischen Politik. Und als solcher wartet er einfach ab, bis der Regierung die Luft ausgeht. Charles Michel, der sich als Mitglied einer vergleichsweise kleinen wallonischen Partei in die Feuerlinie begeben hat, scheint nur seine Marionette. Und ob er noch fünf Jahre durchhalten kann, ist sehr die Frage. Irgendwann, so steht zu befürchten, wird Belgien wie ein fauler Apfel der N-VA in den Schoß fallen. Und zerplatzen.
Marion Schmitz-Reiners
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