Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war Antwerpen einer der großen Auswandererhäfen Europas. Die Schiffe der Reederei Red Star Line brachten von der Hafenstadt aus zwei Millionen Menschen nach Amerika und Kanada. Dennoch ist dieses Kapitel belgischer Geschichte weitgehend in Vergessenheit geraten. Im neuen Museum „Red Star Line“, das Ende September eröffnet wird, wird sie wieder lebendig.
Sie kamen aus Russland, Polen und Galizien: zwei Millionen Auswanderer, die meisten davon Juden, die vor Pogromen und der Armut in ihrer Heimat geflüchtet waren. Das Ziel ihrer Reise war das „gelobte Land“ Amerika. Ihre letzte Station auf dem europäischen Kontinent war Antwerpen.
Von Odessa aus gab es eine direkte Zugverbindung zur belgischen Hafenstadt, weshalb Antwerpen von Osteuropa aus besser zu erreichen war als Hamburg oder Bremen. Und dort hatte sich 1873 die amerikanische Reederei Red Star Line etabliert. Auf dem Höhepunkt der europäischen Auswanderungswelle, kurz vor dem Ersten Weltkrieg, beförderte sie wöchentlich bis zu viertausend Menschen in die Neue Welt.
Arbeitstauglich
Abgerissen und erschöpft kamen die Auswanderer nach tagelanger Zugfahrt in Waggons vierter Klasse in Antwerpen an. Dort wurden sie von Reedereiagenten zunächst in billigen Hotels untergebracht, wo sie auf den Tag der Abfahrt warteten. Bevor sie an Bord der Ozeandampfer gehen durften, wurden sie durch die drei Abfertigungshallen der Reederei am Rijnkaai geschleust.
Dort gab es lange Reihen von Duschen, riesige Dampfkessel für die Desinfizierung des Gepäcks und Büros, in denen Pässe und Schiffspapiere kontrolliert und die Auswanderer ärztlich untersucht wurden. Wer krank oder schwach war, dem wurde die Ausreise verweigert. Denn in Amerika wurden die Einwanderer noch einmal untersucht – und wer für arbeitsuntauglich befunden wurde, der wurde auf Kosten der Reederei nach Europa zurückgeschickt. Aber viele Juden, denen die Ausreise nicht gelang, tauchten in Antwerpen unter, wo sie Aufnahme bei Freunden oder Verwandten fanden und im Diamantengeschäft eine neue Existenz aufzubauen versuchten.
Von hohen Erwartungen und tiefen Enttäuschungen, von Hoffnungen und schlaflosen Nächten der Auswanderer berichtet nun das neue Museum Red Star Line am Rijnkaai in Antwerpen. Es ist in die ehemaligen Hallen der Reederei eingezogen, die nach dem jähen Ende des Auswandergeschäfts nach dem Ersten Weltkrieg zur Ruine verkommen waren. Denn im Norden der Stadt entstand ab 1960 ein neuer, riesiger Industriehafen. Das alte Hafenviertel verfiel und die Geschichtsschreibung ging über die Auswanderungsepoche hinweg.
Mut und Tapferkeit
Bis die Stadt beschloss, das Viertel und damit auch die Hallen zu sanieren. Heute entfaltet sich im Museum Red Star Line die Geschichte von Menschen, deren Mut und Tapferkeit man nur bewundern kann. Die Besucher wandern durch acht Räume, in denen sie die Reise der Emigranten nachvollziehen können – vom Büro der Reedereiagenten in Warschau über das Emigrantenhotel in Antwerpen bis zum Zwischendeck der Ozeandampfer, in das bis zu zweitausend Menschen gepfercht waren. Dass das Museum in den ursprünglichen Abfertigungshallen eingerichtet wurde, verleiht ihm eine besondere, zwingende Authentizität.
Und man erfährt dort auch, wer alles von Antwerpen aus emigrierte. 1891 reiste der fünfjährige Israeli Isidore Beilin mit seinen Eltern auf der „Rhynland“ nach New York – später wurde er unter dem Namen Irving Berlin als Komponist unter anderem des Songs „White Christmas“ weltberühmt. 1933 flüchtete Albert Einstein auf der „Westernland“ vor den Nazis nach Amerika. Geschichte machte 1912 auch die „Lapland“: Sie brachte die Überlebenden der „Titanic“, ein Schiff der Schwesterreederei White Star Line, zurück nach England.
Die Architekten, die auch das New Yorker Auswanderermuseum Ellis Island gestaltet haben, versahen das Museum mit einem Turm, der an einen Schiffsbug erinnert. Von dort aus schweift nun der Blick der Besucher über die Schelde in Richtung Nordsee. Ein idyllischer Prospekt. Für die Auswanderer war die Aussicht viel mehr: Hinter dem Horizont erahnten sie ein neues, besseres Leben.
Nicht alle reisten nach Amerika, weil sie der Armut entfliehen wollten. „1906 ging ich in Antwerpen an Bord eines Ozeandampfers und fuhr zu meiner Liebsten“, berichtete Abram Spiwak. „Wir hatten uns in einer Süßwarenfabrik in Odessa kennen gelernt, dann war sie mit ihrer Familie nach New York gezogen. (…) Wenn man mich fragt, wie weit ich für die Liebe reisen würde, antworte ich: sehr weit.“ Er fand in Amerika das Glück. Aber es gab auch Auswanderer, die aufgaben. Wie Irène Bobelijn, eine der letzten noch lebenden Passagiere der Red Star Line. 1928 war sie mit ihren Eltern emigriert, drei Jahre später kehrte sie zurück. Denn in Amerika war mit der Großen Depression bittere Armut ausgebrochen. Wieder in Belgien, schockierte das Mädchen die Umwelt, weil es – wie in Amerika üblich – „Stiefelchen und kurze Röcke“ trug. Es eckte überall an.
Zwei der Emigrantenschicksale, die im Museum wieder lebendig werden. Sie kommen uns sehr vertraut vor. Und haben es verdient, nicht vergessen zu werden.
Red Star Line Museum
Montevideostraat 3, 2000 Antwerpen
Eröffnung am 28. September 2013
Autor: Marion Schmitz-Reiners
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