Ein anderer Kreuzweg: in und um Brüssel
Der große Bus musste es sein, denn groß war die Teilnehmerzahl aus den beiden christlichen deutschen Gemeinden in Brüssel, die sich unter Führung von Pfarrer Cierpka am Samstag, den 7. März, auf den Weg machten, um Orte der Erinnerung aufzusuchen: Erinnerung an das Unrecht, das die deutschen Besatzer Belgiern zugefügt haben, aber auch an den Widerstand gegen das Unrecht.
Das ehemalige Atelier des Malers Marcel Hastir in der Rue du Commerce 51 ist die erste Station auf diesem Kreuzweg. Im Europaviertel gelegen und jetzt immer wieder vom Abriss bedroht, war dieses alte Haus ein Zentrum des belgischen Widerstandes. Hier versteckte Hastir während der deutschen Besatzungszeit Juden vor ihren Verfolgern, hier war der Treffpunkt junger Widerstandskämpfer. Drei junge Intellektuelle, Youra Livchitz, Jean Franklemon und Robert Maistriau trafen sich hier, um eine waghalsige Aktion zu planen: den Überfall auf den 20. Deportationszug von Mechelen nach Auschwitz am 19. April 1943.
Atelier Marcel Hastir
Im „Atelier Marcel Hastir“ fühlt man sich in diese Zeit zurückversetzt, da steht ein alter Kanonenofen, die Wände sind voll behängt mit Bildern und es gibt einen alten Apparat zu sehen, der dem Widerstand dazu gedient hat, Flugblätter zu vervielfältigen. Monsieur Hastir ist jetzt 103 Jahre alt und wohnt nach wie vor in diesem Haus. So lange er lebt, ist der Bestand dieser einzigartigen Erinnerungsstätte nicht gefährdet. Aber was dann? Wie Susanne Fexer uns erläutert, bemüht sich ein Verein mit Hilfe von Sponsoren, durch die Organisation von Konzerten und anderen kulturellen Veranstaltungen, die nötigen Mittel für die dringend notwendige Restaurierung des Hauses und seinen dauerhaften Erhalt aufzubringen. Jede Hilfe ist hier willkommen!
Nach einem kurzen Halt vor Photographien, die zur Zeit am Zaun gegenüber dem Palais Royal ausgestellt sind und Mitbürger erinnern, die während der Besatzung deportiert wurden, erreichen wir ein schlankes, neun Stockwerke hohe Apartmenthaus in der Avenue Louise Nr. 453, die zweite Station unseres Kreuzweges. Nur bei sehr genauem Hinsehen erkennt man noch die Spuren der Einschüsse, über deren Ursache eine unscheinbare Tafel aufklärt: In diesem Haus, das gegenüber dem Park der Abbaye de la Cambre liegt, war die Gestapo untergebracht. In seinen Kellern wurden jüdische Männer, Frauen und Kinder sowie Personen, die verdächtigt wurden im Widertand tätig zu sein, gefangen gehalten, gefoltert und anschließend in Sammellager gebracht.
Jean de Sélys Longchamp
Am 20. Januar 1943 wurde die Gestapozentrale bei einem überraschenden Sturzflugangriff verwüstet. Mehrere SS-Mitglieder wurden dabei getötet oder verletzt. Geflogen hat diesen Angriff ein junger belgischer Pilot in den Diensten der Royal Air Force, Jean de Sélys Longchamp. Bei einem Erkundungsflug hatte er sich von seinem Geschwader entfernt und auf eigene Faust diesen waghalsigen Angriff unternommen. Er hatte sich damit für die Ermordung seines Vaters durch die Gestapo rächen wollen. Auf der Verkehrsinsel vor dem Gebäude erinnert eine vergoldete Büste an diesen Helden. Aber wer achtet schon darauf, wenn er mit dem Auto daran vorbeikommt?
Auf der Weiterfahrt gilt ein kurzer Blick dem in einem Park gelegenen kleinen Schloss, das jetzt Sitz der Verwaltung der Europäischen Schule in Uccle ist. Es war früher Teil der Université Libre de Bruxelles, die sich durch ihren freiheitlichen Geist auszeichnete. Sie war ein natürliches Zentrum des Widerstandes und konspirativer Treffen gegen die deutsche Besatzungsmacht.
Vierter Punkt des Kreuzweges und bedrückender Höhepunkt der Fahrt ist das Fort de Breendonk, das bei Willebroek an der A12 zwischen Brüssel und Antwerpen liegt. Es wurde vor dem ersten Weltkrieg errichtet und ist jetzt eine nationale Gedenkstätte. Der flache, grauschwarze, unförmige Betonkoloss symbolisiert geradezu Krieg, Grausamkeit, Leiden und Tod. Die Nazis betrieben dort von September 1940 bis August 1944 ein Konzentrationslager. Ein großer Teil der insgesamt etwa 4000 Gefangenen wurde mit Deportationszügen nach Auschwitz oder in andere Vernichtungslager gebracht. Unter ihnen befanden sich Jean Franklemon und Robert Maistriau, die glücklicherweise überlebten. Auch Youra Livchitz war vor seiner Erschießung 1944 in Brüssel zeitweise in Breendonk und wurde dort gefoltert.
Casino mit SS-Symbolen
Der Rundgang durch die feuchten, kalten Räume lässt einen erschaudern. Die Zeit scheint stehen geblieben zu sein und man kann sich in den Schlafsälen, Einzelzellen, Toiletten und Folterkammern recht gut vorstellen, wie es dort zuging: Hunger, Kälte, Feuchtigkeit, Erschöpfung, Krankheit, unendliche Schmerzen, Mord. Neben den SS-Schergen sind auch die belgischen Kollaborateure, die bei den Grausamkeiten eine aktive Rolle spielten, in großen Fotoporträts abgebildet. Besonders erschreckend ist, dass oft nicht auf höheren Befehl, sondern aus Sadismus gefoltert und gemordet wurde. Ein makabrer Höhepunkt des Rundgangs ist das „Casino“ mit den SS-Symbolen an der Wand und dem Leitspruch „Meine Ehre ist Treue“.
Der ausgezeichnete und sehr sachlich orientierte Führer berichtet uns von den vielen Schulklassen besonders auch aus Deutschland, die das Fort besuchen. Ihm geht es darum, dass Lehren aus der Vergangenheit für unsere Gegenwart gezogen werden. Sind nicht Folter und Unrecht nach wie vor in unserer Welt weit verbreitet und auch in Demokratien anzutreffen?
Den Abschluss unseres Kreuzweges bildet schließlich das Denkmal am Bahnhof in Boortmeerbeek (nordöstlich von Vilvoorde), das an den Überfall auf den Deportationszug am 19. April 1943 erinnert. Es wurde 2005 unter finanzieller Beteiligung der beiden deutschen christlichen Gemeinden in Brüssel errichtet und soll dazu beitragen, dass diese herausragende Tat scheinbar machtloser Einzelner gegen die Gewaltherrschaft nicht vergessen wird. Dafür hat in anderer Form schon fünf Jahre früher Marion Schreiber gesorgt. Mit ihrem Buch „Stille Rebellen“ hat sie dieser einzigartigen Tat und dem belgischen Widerstand insgesamt ein Denkmal gesetzt.
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