So manche Landesvertretung präsentiert in Brüssel „ihre“ Literaturpreisträger in gediegenen Abendveranstaltungen für illustre Gäste. Allein die Landesvertretung Bremen aber bringt die Gewinner des Bremer Literatur-Förderpreises außerdem in Kontakt mit den Lesern der Zukunft. Bereits zum fünften Mal – ein kleines Jubiläum – konnte man einen neuen Preisträger live an der Internationalen Deutschen Schule erleben.
Der gerade dreißigjährige Autor Andreas Stichmann wirkt dabei tatsächlich fast ebenso jugendlich wie die Schüler der 9., 11. und 12. Klassen sowie die gut 30 Gäste dieser Europaschule in Woluwé, die nach einer herzlichen Begrüßung durch Schulleiter Jürgen Langlet seinen Auftritt mit Spannung erwarteten.
Ein „Jugendbuch“ habe Stichmann geschrieben, fanden einige Kritiker, einen Roman über das Erwachsenwerden, oder, moderner ausgedrückt, einen „Coming-of-Age-Roman“. Doch „Das große Leuchten“ ist weit mehr, ist mindestens zugleich Familien- und Liebes-, wie auch Bildungs-, Spionage- und Abenteuerroman, eine Ausreissergeschichte und eine Road-Novel.
Eigentümliche Protagonisten, exotische Schauplätze, skurrile Figuren
Die zwei Protagonisten, Rupert und sein „Ziehbruder“ Robert, sind als Söhne von Hippie-Frauen anscheinend vaterlos aufgewachsen und beide etwas von der Rolle. Was sich bei Rupert, dessen Mutter sich später das Leben nimmt, vor allem als große Haltlosigkeit darstellt, steigert sich bei Robert bis ins Psychopathologische. Auch die verführerische Ana, Tochter eines alkoholkranken Exiliraners, ist als Halbwaise aufgewachsen, verkörpert aber vieles, was Rupert gern wäre, ist attraktiv, erfahrungshungrig und unabhängig, und so erobert sie sein Herz im Sturm. Nach allerlei wilden Eskapaden verschwindet sie jedoch plötzlich, und die Freunde, die sie im Iran vermuten, nehmen auf die Suche nach ihr kurz entschlossen einen Last-Minute-Flug nach Teheran.
Auf ihrer Odyssee durch Persien, die sie bis ans Kaspische Meer führt, begegnen ihnen lauter skurrile Gestalten: russische Kleinkriminelle, Ex-Generäle, uralte Orangenfarmer und – inmitten der Wüste – ein Derwisch, der in einer Höhle mit ihnen über abendländisches Denken debattiert. Nichts scheint hier alltäglich, fast alles seltsam und fremdartig.
Alles nur geträumt?
Eine Art Gegenwelt also, oder vielleicht sogar eine Traumwelt? Rupert selbst scheint dem, was er sieht, nicht ganz zu trauen und hat sich eine „Nichtblinzeltechnik“ zugelegt: Er glaubt, nur mit weit geöffneten Augen die Dinge so zu erkennen, wie sie tatsächlich sind, hält es aber gleichzeitig für möglich, dass die Welt nur in seinem Kopf existiert, während Roberts Wahrnehmung im Laufe der Zeit immer mehr in einen wahnhaften Rausch zerfällt.
„Wirklichkeit“, was ist das überhaupt? Das literarische Spiel mit Realität und Einbildung erinnert an Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“, für deren Helden Träume einen ebenso hohen Stellenwert besitzen wie das Tatsächliche, und Ruperts „Nichtblinzeln“ wirkt wie ein Zitat von Stanley Kubricks Filmtitel „Eyes wide shut“, der Kino-Version der Erzählung. Und wer hätte in Brüssel nicht die Bilder eines René Magritte und Paul Delvaux buchstäblich vor Augen, die als „Surrealisten“ auf ihre Weise das Traumhafte, das Unbewusste, das Unwirkliche auszuloten versuchten?
Viele Fragen – eine nachdenkliche Diskussion
Mit virtuellen Welten haben heutige Jugendliche freilich sehr reichhaltige Erfahrungen, ebenso wie mit der Fremde, ganz besonders an einer Auslandsschule wie der iDSB. Vielleicht gerade deshalb zielen die Fragen der Schüler überwiegend aufs Reale, zum Beispiel:
„Wie haben Sie den Iran persönlich erlebt?“ – „Ich habe das Land per ‚Couchsurfing’ bereist, also bei Gastgebern übernachtet, die mich kostenlos aufgenommen haben, eine Chance, diese Welt sehr unmittelbar zu erleben. Bei meinen Schilderungen ist zwar manches erfunden, doch ausgerechnet der anscheinend märchenhaftesten Gestalt bin ich selbst begegnet, dem Derwisch nämlich.“
„Wie schreiben Sie und wollen Sie etwas Bestimmtes mitteilen?“ – „Ich schreibe eher einzelne Episoden, die ich später zusammenfüge, und nein, ich habe keine exakte ‚Botschaft’, auch wenn man das in einer Schule vielleicht erwartet. Die Deutung der Texte überlasse ich ganz den Lesern.“
„Wie sind Sie zum Schreiben gekommen und können Sie davon leben?“ – „Ich habe früh mit dem Schreiben angefangen und später am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studiert. Dort wird Literatur nicht theoretisch untersucht, sondern man diskutiert miteinander das, was man geschrieben hat. Auch heute noch lerne ich am meisten von guten Freunden, denen ich meine Texte zeigen kann und die mir sagen, was sie davon halten. Inzwischen kann ich auch vom Schreiben leben. Dabei haben mir Preise sehr geholfen, die die Tür zu den renommierten Verlagen öffnen.“
Barbara Lison (Direktorin der Stadtbibliothek Bremen) und ihr Stellvertreter Erwin Miedtke, der durch die Veranstaltung führte, hörten mit großem Interesse, dass die Jugendlichen in Brüssel auch heute noch am liebsten „richtige“ Bücher lesen und keine E-Books. Wenn das stimmt, hätten sowohl Bibliotheken als auch Verlage allen aktuellen Unkenrufen zum Trotz eine gesicherte Zukunft.
Autor: Friedhelm Tromm, Fotos: Tanya Wittal
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