Von Ferdinand Dupuis-Panther.
Für die Brüsseler ist die Domäne Solvay in La Hulpe eine grüne Oase, die gerade an Wochenenden zu ausgedehnten Spaziergängen, zum Picknick oder zum Besuch der Ausstellung der Werke von Jean-Michel Folon in der Fondation Folon animiert.
In La Hulpe lebte bis zu seinem Tod auch der international angesehene Jazzmusiker Toots Thielemans, der wie kein anderer die Mundharmonika im Jazz salonfähig gemacht hat. Seine bekannteste Komposition war gewiss “Bluesette”. Am Tag seiner Beerdigung am 27. August 2016 wurde diese sehr eingängige Melodie des aus dem Marollen-Viertel stammenden Jazzmusikers von einigen Glockenspieler Flanderns angestimmt, die damit Toots Thielemans die letzte Ehre erwiesen. Übrigens, Toots Thielemans ist auch ein Jazzfestival gewidmet, das jeweils Anfang September in La Hulpe stattfindet.
Die Domäne Solvay ist ein ausgedehnter Park mit teilweise exotischen Gehölzen. Einzelne Mammutbäume finden sich ebenso wie die bläuliche Atlaszeder oder die eigentlich aus China stammende Schierlingstanne. Douglasien gedeihen neben kegelförmigen Sicheltannen; Azaleen und Rhododendren sind besonders im späten Frühjahr ein bunter Farbtupfer. Eichen, Kastanien, Buchen und Föhren formen kleine Baumgruppen. In der Dämmerung gehen die Fransen- und die Zwergfledermaus auf Insektenjagd. Tagsüber den Kuckuck zu hören, ist keine Seltenheit. Auch das Klopfen des spatzengroßen Kleinspechts ist hin und wieder zu vernehmen. An den Ufern der Seen lauern Graureiher auf Fischbeute, und Löffelenten paddeln gemächlich über das Wasser.
Ein aufgelassenes Gehöft inmitten der Domäne dient der Stiftung Folon dazu, das Konvolut an Arbeiten, darunter Aquarelle, Siebdrucke, Plakate, Figurinen und Plastiken des Multitalents Jean-Michel Folon zugänglich zu machen. Präsentiert werden ungefähr 300 Arbeiten des 2005 verstorbenen Künstlers. Ob er der Mann mit dem Hut ist, dem der Besucher bereits vor dem Eintritt in das Schlaraffenland der Kunst begegnet ist, erfährt man auf der Reise durch die teilweise geheimnisvolle Bilderwelt Folons nicht.
Eine Bilderreise hinter dem Buchdeckel
Langsam öffnet sich ein riesiger Buchdeckel, hinter dem sich der erste Ausstellungsraum befindet. Von unsichtbarer Hand schließt sich diese Tür zur Kunstwelt Folons auch wieder. Nun wird man eingenommen von den zarten Aquarelltönen, die für Folon so charakteristisch sind. Neben Bucheinbänden, die Folon gestaltet hat, finden sich hier außerdem Arbeiten zum Thema Menschenrechte. Gestaltet hat der Künstler unter anderem Einbände zu Veröffentlichungen von Jorge Semprun und von H.G. Wells. Wie auf dem Rundgang erfahrbar wird, sind dies nicht die einzigen Arbeiten als Illustrator. Auch den New Yorker und die Time zieren Folons Bilderwelten.
Folons Botschaften
Die Botschaften, die Folon in seinen Arbeiten zur Frage der universellen Menschenrechte vermittelt, sind durch einfache und vereinfachte Symbolik bestimmt: Eine weiße Schemengestalt hinter Stacheldrahtverhau steht für „Ja zum Leben“. Schemenhaft ist auch der chinesische Kuli angelegt, der von einer Rakete in den Rücken getroffen wird: „Nein zur Intoleranz“. Auf einem weiteren Blatt sieht man eine in den Himmel aufsteigende Friedenstaube mit einem Palmenwedel. Doch an Frieden kann man nicht glauben, betrachtet man die vier Galgen, an denen Menschen ihr Leben ließen.
Der Mensch, die Stadt und die Natur
Neben Illustrationen schuf Folon während seiner künstlerischen Karriere Aquarelle und Siebdrucke wie die in Blau und Grün getauchte, skulptierte Landschaft mit einer riesenhaften Sphinx, auf deren Pfoten ein blauer Mann steht und verloren in die Ferne starrt. „Der Fremde“ ist der bezeichnende Titel: Doch wer ist hier fremd? Den urbanen Betondschungel, der unsere Lebenswelt ist, nahm der Künstler immer wieder ins Visier und setzte seine feinsinnige Kritik in eine gekonnte Bildsprache um: Zwischen den emporschießenden Hochhäusern steht ein einsames Männlein mit Würfelkopf und grünem Beinkleid.
Die Welt der Zeichen und Wegweiser greift Folon in „Chemin“ (1983) auf. In einer pfeilförmigen Vertiefung sucht ein in Blau gekleideter Mann nach dem Weg. Pfeile, die sich selbstständig gemacht haben, umschlingen auf einem anderen Blatt backsteinerne Hochhäuser, die ins Schwimmen geraten sind. Pfeile schießen einem Zeitungsleser aus dem Schädel, der nicht etwa zuhause die neusten Nachrichten liest, sondern während er unterwegs ist. Inmitten qualmender Schlote und Rohre – aus ihnen entweicht blauer und grüner Qualm – steht ein Mann, aus dessen Kopf ebenfalls Rauch aufsteigt. Beim Anblick von „Erinnerung an Palladio“ denkt kaum ein Betrachter an die klassizistischen Villen Palladios in Venetien. Im Gegenteil: Folon zeigt uns eine surreale Welt: Ochsenaugenfenster wandeln sich zu glasklaren, hellblauen Augen, und eine halb geöffnete Tür ist der Mund der steinernen Person. „Tag für Tag“ betitelte Folon eine Landschaft mit Hügeln, in der eine Stanzmaschine für das Einstanzen von Ösen sorgt. Ist dies Folons Beitrag zur aktuellen Debatte über Mensch und Natur?
Märchenhafte Weltbilder
Einen Mann mit blauem Hut und Stiernacken betrachten wir beim weiteren Rundgang. Auf dem Nacken – nicht zu übersehen – zeichnet sich ein Auge mit einer Pupille ab, die aus orangen, gelben und tiefroten Ringen besteht und somit an einen feurigen Sonnenball denken lässt. Stand hier vielleicht George Orwells „1984“ für Folon Pate, der mit dieser Arbeit die Allgegenwart der Bespitzelung aufs Korn zu nehmen versucht? Physiognomie und Kostümierung des Mannes lassen durchaus an einen Stasi- oder anderen Geheimagenten denken.
Mit einem Riesensprung überwindet der goldene “Hase von Alice” große Entfernungen – und das, obgleich er – ach du schöne surreale Welt – noch acht Aktentaschen mit sich trägt. Schließlich ist das nur möglich, da dem Hasen acht Arme aus dem Leib wachsen – und diese müssen schließlich beschäftigt werden. Etwas Märchenhaftes hat auch das Glasfenster, das in der Ausstellung zu sehen ist, und wohl den Mann im Mond thematisiert: Aus dem grauen Wolkenhimmel ragt eine Hand heraus, die die Mondsichel am Henkel trägt.
Ready mades für die Kunst
Ein Hutmodel wandelt sich bei Folon in einen Kopf und eine Holzforke zu einer Person mit Geweihkopf. Und aus weiteren Readymades schuf der Künstler verschiedene teuflische Fratzen. Objekte wie ein mechanisches Boot und ein Flugzeug werden zu Bildvorlagen.
Verlassen die Besucher den ersten Teil der Ausstellung, so durchqueren sie einen kleinen Hof mit einem Brunnen, in dessen Mitte ein Mann mit Hut und Regenschirm steht. Dabei ergießt sich aus dem Regenschirm ein Wasserschwall auf den Mann.
Im zweiten Teil der Ausstellungen sind es vor allem Kleinplastiken und große skulptierte Arbeiten, die Besucher faszinieren. Zudem kann man einen Blick in die Künstlerwerkstatt werfen.
Text und Fotos © ferdinand dupuis-panther
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