344 Hektar Land im Nordosten der heutigen Provinz Lüttich sind in die Geschichte als das Neutralgebiet „Neutral-Moresnet“ eingegangen. Das historische Unikum, das ursprünglich als Provisorium gedacht war, hat die Belgische Revolution von 1830, den Deutsch-Französischen Krieg von 1870-1871 und die Gründung des Deutschen Kaiserreichs überstanden und so mehr als hundert Jahre Bestand gehabt.
Das Gebiet, das im Dreiländereck zwischen Belgien, den Niederlanden und Deutschland liegt, ist während des Wiener Kongresses 1815 entstanden, als Europa nach den Napoleonischen Kriegen neu geordnet wurde. Es wurden neue Grenzen gezogen und die Territorien der Niederlande und Preußens genau festgelegt. Beide Länder beanspruchten jedoch ein Gebiet von 344 Hektar – die Gemeinde Moresnet – das wegen der großen Galmei-Vorkommen sehr begehrt war. Galmei war zu der Zeit ein gefragtes Mineral, unentbehrlich zur Herstellung von Zink und Messing, das damals vor allem in der Kriegsindustrie Verwendung fand.
Verwaltetes Kuchenstück
In Wien konnte der Streit um Moresnet nicht beigelegt werden und es dauerte bis Mitte des Jahres 1816, ehe es zu folgendem Kompromiss kam: Der westliche Teil des Gebietes ging an die Niederlande, der östliche Teil an Preußen. Das Schicksal des winzigen Territoriums dazwischen, in Form eines Kuchenstücks mit 250 Einwohnern und 50 Häusern, blieb unentschieden, da man sich nicht darüber einigen konnte, wie die Grenze gezogen werden sollte. Das Gebiet wurde einer gemeinschaftlichen Verwaltung unterworfen und durfte von beiden Mächten nicht militärisch besetzt werden – daher der Name Neutral-Moresnet.
Ein preußischer Kommissar und anfänglich ein niederländischer, später, nach der Gründung Belgiens, ein belgischer, beaufsichtigten die Gemeinde. Sie ernannten den Bürgermeister, der jedoch kaum kontrolliert wurde und Neutral-Moresnet zu einem kleinen Eldorado werden ließ. Die Grubengesellschaft, Hauptarbeitgeber der Region, lockte nämlich viele junge deutsche, flämische, wallonische und niederländische Männer in das neutrale Gebiet, wo sie sich neutralisieren ließen und so dem Militärdienst entgehen konnten.
Auch Steuervorteile ergaben sich durch den Sonderstatus von Neutral-Moresnet. Weil sich die beiden Mächte nicht einigen konnten, blieben die Steuern über Jahre unverändert, und wer etwas zu versteuern hatte, wählte jeweils das Steuersystem des günstigsten Landes. Beim Zoll profitierte man von einer weiteren Gesetzeslücke: sowohl Preußen als auch Belgien betrachteten Moresnet als Teil des Hoheitsgebiets, also als Inland, und somit war die Einfuhr zollfrei. Bei der Ausfuhr sahen die beiden Staaten das neutrale Gebiet als Ausland und kassierten entsprechend Zollabgaben.
Schnapsbrennereien im Schmugglerparadies
Zahlreiche illegale Schnapsbrennereien ließen sich hier nieder und exportierten den Schnaps in Wasserflaschen. Moresnet wurde weit über seine Grenzen hinaus als Schmugglernest und Paradies für illegale Glücksspiele bekannt. Im Jahr 1907 siedelten sich hier einige Esperanto-Anhänger an. Ein Jahr später erklärten sie das Gebiet zum Hauptsitz der Esperanto-Bewegung und gaben ihm den Namen Amikejo, Ort, an dem sich Freunde treffen. Die Einwohner wurden zu überzeugten Esperanto-Anhängern und nahmen mit Begeisterung an den kostenlosen Sprachkursen teil.
Der Traum des Esperanto-Staats zerplatzte, als deutsche Truppen im August 1914 in Belgien einmarschierten. Weil inzwischen nur noch die ursprünglich ansässigen Bewohner und ihre unmittelbaren Nachkommen staatenlos waren und alle anderen Einwohner Bürger ihrer jeweiligen Staaten blieben, wurde die friedliche Gemeinde auseinander gerissen. Nachbarn und Freunde wurden plötzlich zu Soldaten der feindlichen Armeen.
Nach dem Ersten Weltkrieg legte der „Versailler Vertrag“ fest, dass Deutschland die volle Staatshoheit Belgiens über das gesamte strittige Gebiet von Moresnet anerkennt. Aus dem dreigeteilten Moresnet entstand die Gemeinde Kelmis (auf Französisch La Calamine), die bis heute als Teil der deutschsprachigen Ostkantone zu Belgien gehört. Die Einwohner sind stolz auf ihre Geschichte und in der Schule erinnert eine Tafel an den untergegangenen Zwergstaat.
Dieser Beitrag erschien in “Nachbar Belgien”, herausgegeben von der Belgischen Botschaft in Berlin. Er wurde am 16. April 2007 von Belgieninfo.net übernommen.
Link: Kelmis
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